Die angekündigten Reformen bei der MA35 (Bild) packen das Problem nicht an der Wurzel, monieren Expertinnen und Experten.

Foto: Elisa Tomaselli

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wiener Magistratsabteilung MA 35 sind im letzten Jahr geschwommen. Dabei hatten sich so viele Anträge angestaut, dass sie sich nicht mehr in der Lage sahen, den Telefonhörer abzuheben. Vor allem ein Zustand habe sich dabei eingestellt: Überforderung. So lautet der Befund der internen Revision, die nach den publik gewordenen Skandalen rund um zu langes Warten auf Aufenthaltstitel und behördliche Schikanen eingesetzt wurde. "Es war nicht so, als hätten die Mitarbeiter nichts zu tun gehabt", stellt der MA-35-Leiter Georg Hufgard-Leitner schlampiges Arbeiten oder gar Dienstpflichtverletzungen mancher Mitarbeiter in Abrede.

Seither wurde viel beschwichtigt: Die Behörde und der für sie zuständige Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr (Neos) gingen im September in die Offensive: 50 zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mehr Digitalisierung, mehr Kundenfreundlichkeit und das Herzstück der Reform, ein telefonisches Servicecenter, das seit Anfang Dezember im Vollbetrieb ist, sollen künftig Erreichbarkeit und rasche Auskunft sicherstellen. Sind überforderte Mitarbeiterinnen und verzweifelte Antragsteller also bald Schnee von gestern?

Gutgemeintes Center

Folgt man der Darstellung von Hufgard-Leitner, dann ja. "Durchschnittlich vier Minuten" dauerte es im Probelauf im Oktober, bis Anrufer allgemeine Informationen zum Antragsprozedere erhielten, sagt der MA-35-Chef. 25.000 Anrufe seien im Oktober eingegangen, 50 Prozent dieser Fälle konnten gleich beim ersten Telefonat gelöst werden. Bei spezifischen Fragen werden die Menschen mit dem zweiten "Level" verbunden – "komplizierte" Fälle gehen zum Sachbearbeiter.

In den folgenden zwei Fällen, über die auch der "falter.morgen" berichtete, half das aber alles nichts: Kompliziert war jener von Sebastian und seiner schwangeren Frau Sofia B* nicht, aber ein Notfall. Sie galt als Risikoschwangere und hätte fast ausreisen müssen. Bis Juli lebte das Ehepaar noch in Kolumbien, in Sofias Heimat. Ein Jobangebot aus Sebastians Geburtsort Wien verschlug aber beide wieder nach Österreich. Im Juli stellten sie für Sofia einen Antrag als Familienangehörige – sechs Monate hat die MA 35 Zeit. Er reiste im Juli ein, seine Frau folgte ihm nach zwei Monaten. Drei Monate durfte sie visumsfrei in Österreich bleiben. "Hätten wir damals die Berichte über die MA 35 gelesen, hätten wir uns das nicht angetan", sagt Sebastian B*. Hatten sie aber nicht. Und so wurde die Verzweiflung zunehmend größer, ob die MA 35 noch rechtzeitig grünes Licht geben würde.

Risikoschwangerschaft kein Grund

Weil sich das Leben aber nicht an behördliche Fristen hält, wurde Sofia im Oktober schwanger. Mit einer Anwältin stellten sie einen Zusatzantrag, der ihnen ermöglicht, die Entscheidung in Österreich abzuwarten. Gerade wenn es um die "Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens" geht und eine Ausreise "unzumutbar" wäre, darf die Person bis zum Erhalt des Aufenthaltstitels in Österreich bleiben. Auf den Antrag kam keine Antwort. Sebastian B* versuchte es beim Servicecenter. "Freundlich und bemüht" waren die Mitarbeiter, helfen konnten sie ihm aber nicht – sie hatten keinen Einblick ins Verfahren.

Das eine Mal, erzählt Sebastian, habe man ihm nach langem Betteln die Nummer seines Sachbearbeiters gegeben. Der ging nicht ans Telefon. Die Risikoschwangerschaft schien der MA 35 zunächst nicht Grund genug, eine Frau mitten in der Pandemie und in einem kritischen Gesundheitszustand aus dem Land zu schicken – Reformprozess hin oder her.

Warten in Österreich nicht erwünscht

Wie schwerwiegend müssen die Gründe sein, dass die MA 35 Familien nicht entzweit? Und wie passt das mit dem Reformprozess zusammen? "Bei Schwangerschaften, sogar bei Elternteilen mit minderjährigen Kindern – und österreichischer Staatsbürgerschaft – werden die Anträge oft abgelehnt", sagt Erika Eisenhut vom Verein Ehe ohne Grenzen. Bis die Behörde darauf reagiere, sei die Frist bereits verstrichen. Ist die Person undokumentiert im Land, könnte ihr der Aufenthaltstitel verwehrt werden. Kulant zeigte sich die MA 35 am Beginn der Pandemie – viele Zusatzanträge seien positiv ausgegangen. "Die gesamte Zeit danach aber nicht mehr", sagt Eisenhut.

Die MA 35 halte sich an eine "unglückliche" Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, wonach die Ausreise in den meisten Fällen zumutbar sei, sagt Peter Marhold, Jurist und Obmann der NGO Helping Hands, die Beratungen zum Fremdenrecht anbietet. Gerade wenn Betroffene wegen Erkrankungen, Schwangerschaft oder eben Corona nicht ausreisen können, laute die Antwort der MA 35: "Hätten Sie sich das vorher überlegt." Das Problem sei aber, dass "Menschen mittlerweile bis zu einem Jahr auf ihre Aufenthaltstitel warten", sagt Marhold. Die Vorstellung, so lange von Frau, Mann oder Kind getrennt zu sein, bringe viele dazu, bei den Fristen zu pokern.

Dem Argument vonseiten der MA 35, sie habe aufgrund der Rechtsprechung "keinen Spielraum", widersprechen Eisenhut und Marhold jedenfalls – "man schöpft ihn einfach nicht aus". Auch der Reformprozess würde daran nichts ändern.

Einsames Weihnachten

Während Sebastian und Sofia B* gerade noch Glück hatten und mithilfe ihrer Anwältin drei Tage vor Verstreichen der Frist grünes Licht bekamen, muss Patrick Falb Weihnachten ohne seine Frau McKenna verbringen. "Ich sitz jetzt allein in unserer neuen Wohnung", sagt der 28-jährige Wiener. Auch sie wären jetzt zusammen, wäre ihr Zusatzantrag berücksichtigt worden.

"Meine Frau ist Asthmatikerin. Für sie war es im Dezember 2020 gefährlich, auszureisen", sagt Patrick Falb. Das sah auch eine MA-35-Mitarbeiterin ein. Auf den Zusatzantrag, den sie wegen McKennas Krankheit und auf Empfehlung der Magistratsabteilung hin stellten, kam nichts zurück. Erst sechs Monate nach ihrem Erstantrag erreichte sie die Antwort: negativ, weil zu wenig Haushaltseinkommen. Nicht nur, dass hier ein Fehler unterlaufen sei, "meine Frau hätte auch schon ein gutes Jobangebot", sagt Patrick Falb desillusioniert. Sie musste ausreisen.

Warum es in beiden Fällen so weit kommen musste, verrät die MA 35 nicht. "Zu Einzelfällen können wir medial keine Stellungnahme geben", sagt eine Sprecherin, die Fälle seien noch nicht abgeschlossen. Wie lange Patrick Falb nun warten muss, weiß er nicht. Aber: "Der ganze Prozess bricht uns langsam psychisch." Im Juli stellte seine Frau McKenna erneut einen Antrag. Seither wartet das Ehepaar auf die Rückmeldung der MA 35. Er in Wien, sie in den USA.

Feedback "willkommen"

Seit Dezember haben Betroffene nun die Gewissheit, dass ihre Anrufe nicht mehr ins Leere gehen – und sich jemand im telefonischen Servicecenter ihrer annimmt. Dabei dürfte es sich aber eher um ein psychologisches Moment handeln. Denn solange diese Mitarbeiter keine Auskunft über die Verfahren geben können, nütze das wenig, sagt Patrick Falb, der nicht mehr anrufen will. Letztlich kann in diesen Fällen nur der zuständige Sachbearbeiter oder die zuständige Sachbearbeiterin weiterhelfen – vorausgesetzt, man erreicht sie. Der Leiter der MA 35 will jedenfalls Prozesse künftig anders gestalten, zum Wohle der "Kunden", aber auch für die Mitarbeiter. Deswegen freue er sich beim eben gestarteten Callcenter auch über "Feedback". (Elisa Tomaselli, 12.12.2021)