Die Erstversorgung rettete Silvano Beltrametti das Leben.
Foto: OLIVIER MORIN / AFP / picturedes

Silvano Beltrametti wollte den Österreichern einheizen. Zur Jahrtausendwende dominierte der ÖSV in den Abfahrten, angeführt von Hermann Maier, Stephan Eberharter und Fritz Strobl stellte das Team gleich mehrere Siegfahrer. Beltrametti wollte diese Dominanz sprengen. "Ich glaube, ich hätte das auch geschafft", sagt er, "leider hat das Schicksal zugeschlagen."

Beltrametti war Fünfter der Rangliste, mit gerade einmal 22 Jahren. Die Konkurrenz war um einige Jahre älter, Beltrametti galt als Zukunftshoffnung, nein, er war schon mehr als das, auf dem Sprung zum Erfolgsläufer und Champion. Am 7. Dezember 2001 fuhr er im Super-G von Val d’Isère hinter Eberharter und seinem Landsmann Didier Cuche auf Platz drei. Einen Tag später kam er in der Abfahrt zu Sturz. Seither ist er querschnittgelähmt.

Heute fährt Beltrametti Monoski. Zehn bis zwölf Tage im Jahr verbringt er auf der Piste. "Das ist zu wenig. Ich hätte gerne mehr", sagt er dem STANDARD. Beltrametti lebt gleichsam auf der Skipiste. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Edwina führt er das Berghotel Tgantieni im Kanton Graubünden. Der Betrieb liegt direkt an einer Talabfahrt in Lenzerheide, wo Beltrametti aufgewachsen ist.

Der Urgroßvater von Silvanos Beltramettis Ehefrau Edwina eröffnete 1929 ein Berghotel in Lenzerheide. Heute leitet das Paar den kleinen Betrieb mit 20 Zimmern inmitten des Skigebiets.
Foto: Berghotel TGANTIENI/Remo Naegeli

Der schnellste Skifahrer

Als Kind verbrachte er viel Zeit in der Natur. Die Eltern waren sportbegeistert, als Bub spielte er mit Schulfreunden Tennis, fuhr Mountainbike oder wanderte. Mit dem Vater und dem älteren Bruder ging er an Wochenenden Ski fahren, beim ersten Mal war er drei Jahre alt. Mit 15 fuhr er erste internationale Rennen, drei Jahre später gab er in Wengen sein Debüt im Weltcup. "Mir war immer klar, nur mit dem Talent würde es nicht reichen."

Er wollte große Siege holen, dafür trainierte er viel. "Ich war sehr fit. Mein Fahrstil erlaubte mir, es mit den Besten aufzunehmen." Bereits in seiner ersten vollen Weltcup-Saison fuhr er auf das Podest, da war er 21 Jahre alt. Im März 2001 wurde er Schweizer Meister in Abfahrt und Super-G. Ein halbes Jahr später startete er mit der Hoffnung auf den großen Durchbruch in die Saison. In Hochsavoyen stiegen die ersten Speedrennen. "Ich fühlte mich gut." Der dritte Platz im Super-G gab Hoffnung für den darauffolgenden Tag. "In der Abfahrt war ich eigentlich noch stärker."

Es lief blendend. Bestzeit im oberen Abschnitt, auch bei der dritten Zwischenzeit nach 1:14 Minuten lag Beltrametti in Führung. Er fuhr auf eine lang gezogene Kurve zu, ein Doppeltor nach rechts. "Bis zu diesem Punkt war ich der schnellste Skifahrer. Das ist ein schönes Gefühl."

Der Fehler geschah an einer scheinbar ungefährlichen Stelle. "In 1000 Fahrten passiert mir das höchstens ein Mal", sagt er. "Ich lenkte zwei, drei Zehntel zu spät ein, und musste nachdrücken." Eine Eisplatte überraschte ihn. Zuerst geriet er in Rücklage, plötzlich aber in Vorlage. "Es ging alles so schnell." Es drehte ihn aus, anstatt in Kursrichtung steuerte er plötzlich nach links ungebremst auf das Netz zu.

Die Kanten seiner Ski durchschnitten das Netz, mit dem Kopf traf er einen Pfeiler, mit dem Rücken landete er auf einem Felsbrocken. Das Rückenmark wurde bei einem offenen Bruch zwischen sechstem und siebtem Brustwirbel vollständig durchtrennt. Beltrametti beschreibt es als Verkettung mehrerer Zufälle. "Mir war bewusst, es geht um alles." Er spricht vom Kampf um sein Leben.

Die Lunge füllte sich mit Blut, Beltrametti bekam kaum Luft. "Es gab da ein Gefühl, das mir sagte: ‚Wenn ich die Augen schließe, ist der Schmerz vorbei.‘" Sein Körper wollte einschlafen, "aber ich wollte kämpfen". Der Steirer Dieter Bartsch, damaliger Cheftrainer der Schweizer, kam als Erster zur Unfallstelle. Er half ihm durch die kritischen Minuten, "um wach zu bleiben". Beltrametti schlief nicht ein.

Ein Hubschrauber brachte ihn auf die Intensivstation nach Grenoble, zwei Tage später wurde er in die Schweiz überstellt und erneut operiert. Beltrametti machte sich nie Vorwürfe. "Der 8. Dezember 2001 war für mich rot angestrichen. Mich hätte es vielleicht auch bei der Heimfahrt getroffen. Es war Schicksal, eine höhere Macht."

Sicherheitsdebatte

Beltramettis Unfall löste eine Sicherheitsdebatte im Weltcup aus. Die Standards zur Absicherung der Sturzzonen wurden erhöht. Die Läufer forderten Maßnahmen für bessere Sichtverhältnisse, manche wollten Scheinwerfer an kritischen Stellen installieren lassen. Bei der nächsten Abfahrt in Gröden setzte der Weltverband Fis eine andere Idee um. Die Fahrlinie wurde mit blauer Lebensmittelfarbe gekennzeichnet, Tannenzweige hatten ausgedient. Der große Vorteil: Die Farbe lässt sich auch quer über die Fahrlinie sprühen, so können etwa Bodenwellen hervorgehoben werden. Beltrametti: "Fahrer verlassen sich auf die Farbe."

Der Sport habe sich schon immer durch schwere Unfälle weiterentwickelt, "meiner zählt dazu", sagt Beltrametti. Er weiß, wovon er spricht, war für einige Jahre der Chef des Organisationskomitees der Weltcuprennen in Lenzerheide. Daher kennt Beltrametti die Anforderungen an einen Austragungsort. Heute braucht es weitaus mehr Netze, sie werden vereinzelt in mehreren Reihen aufgestellt. "Wäre solch ein B-Netz an der Unfallstelle gestanden, hätte es mich sicher schneller gebremst. Vielleicht wäre ich nicht in den Pfeiler gekracht." Aber er will nicht spekulieren, zieht stattdessen ein Fazit: "Es ist ein Outdoor-Sport, ein Restrisiko gehört dazu."

Silvano Beltrametti macht im Hotel "alles, was dazugehört".
Foto: Berghotel TGANTIENI/Fabienne Buehler

Skisport im Herzen

Seit 2009 ist Beltrametti Hotelier. Er begrüßt seine Gäste, führt die Rezeption und hilft beim Frühstücksbuffet und an der Schank. "Ich bin voll im Einsatz. Alles, was dazugehört." Im Gegensatz zu kleineren Skigebieten macht sich Beltrametti um den Tourismus in Lenzerheide auf 1500 Meter Höhe keine Sorgen. Die Buchungslage sei gut, auch für den kommenden Winter. In der Zwischensaison im Frühling und Herbst sitzt Beltrametti oft am Handbike. Und wenn die Skigebiete öffnen, gehen sich ein paar Tage am Monoskibob aus. "Der Skisport bleibt in meinem Herzen." (Lukas Zahrer, 8.12.2021)