Notschlafstelle der Caritas in Wien.

Foto: Heribert CORN

In Notquartieren übernachten obdachlose Menschen oft auf engem Raum und können auch nur für kurze Zeit dort bleiben. Aus Sicht der Caritas braucht es daher auch ausreichend geschützten Wohnraum für Frauen. In Salzburg eröffnet im Jänner ein Wohnprojekt für Frauen, in denen sie etwa bis zu zwei Jahre bleiben können – und eine im Verhältnis zu den Mietpreisen auf dem freien Markt niedrige Miete von 399 Euro zahlen.

In Wien sind etwa ein Drittel alle Nutzer*innen der Wohnungslosenhilfe Frauen. Die Hälfte der Anfragen bei der Delogierungsprävention der Volkshilfe kommt von Frauen. Viele Frauen sind auf ihr soziales Umfeld angewiesen, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Bei Müttern kommt die Befürchtung hinzu, in Komplikationen mit der Kinder- und Jugendhilfe zu geraten, wenn den Kindern kein fester Wohnsitz geboten werden kann, erklärt Anna Parr, Generalsekträtin der Caritas Österreich, warum Wohnungsnot bei Frauen oft unsichtbar bleibt.

STANDARD: Wie stark sind Frauen von Obdachlosigkeit betroffen? Auf den Straßen sehen wir eher obdachlose Männer.

Parr: Das stimmt, auf der Straße sehen wir relativ weniger Frauen. Ein Grund dafür: Frauen wissen, dass Obdachlosigkeit für sie gefährlich ist. Deshalb übernachten sie bei Bekannten, pendeln von Couch zu Couch und fallen damit in die Kategorie "versteckte Obdachlosigkeit". Vielfach bleiben sie in Beziehungen, allein weil sie kein Geld für eine eigene Wohnung haben. Ich habe vor kurzem von einem Fall gehört, wo eine Frau in eine Gewaltbeziehung zurückgekehrt ist, weil sie sonst kein Dach über dem Kopf hätte. Es geht aber nicht nur um Gewaltbeziehungen, auch in anderen unglücklichen Beziehungen verbleiben Frauen manchmal nur, weil sie sich eine eigene Wohnung nicht leisten können und finanziell von ihren Partnern abhängig sind.

Leistbares Wohnen ist ein großes Problem in Österreich, es braucht einen massiven Ausbau von sozialem Wohnbau und von Einrichtungen wie unserem neuen Frauenwohnprojekt in Salzburg mit sehr geringen Mieten.

STANDARD: Ist bei Gewaltschutzmaßnahmen das Thema Armut zu wenig am Radar?

Parr: Gewalt kann Frauen aus jeder sozialen Schicht betreffen. Man kann nicht sagen, dass es eine spezielle Häufigkeit bei Menschen gibt, die einen Armutshintergrund haben. Das sehen wir auch, wenn wir in Biografien der Frauen blicken, die heuer einem Femizid zum Opfer gefallen sind. Die Bundesregierung hat eine Aufstockung des Frauenbudgets um 24 Millionen bekanntgegeben. Aus unserer Sicht reicht das bei weitem nicht aus. Dieses Geld ist derzeit insbesondere für Gewaltschutzzentren vorgesehen – aber nur in einem sehr geringen Ausmaß für präventive Leistungen. Die Caritas bietet etwa Präventionsarbeit für Schulen und Kindergärten an – etwa das Projekt "STAR*K", bei dem junge Menschen zu Peers ausgebildet werden mit dem Ziel, dass sie verschiedene Formen von Gewalt gegenüber Mädchen und Frauen erkennen, entschieden dagegen auftreten und somit auch als Multiplikator*innen wirken. Wir müssen die Sensibilisierung in der Gesellschaft stärken, damit wir schneller erkennen, ob hinter einer Situation womöglich Gewalt steckt.

Beratungsleistungen für gewaltbetroffene Frauen sind das eine, das andere sind aber beispielsweise auch nötige Schulungen für die Polizei. Wir hören immer wieder, dass Frauen sagen: "Ich war eh schon bei der Polizei, aber das wurde nicht wirklich ernst genommen."

STANDARD: Was sind die Erfahrungen der Caritas mit Hürden, sich Hilfe zu holen?

Parr: Es geht oft um die Frage, ob man sich selbst eingesteht: "Jetzt muss ich mir Hilfe holen." Jeder Mensch möchte selbstständig leben, möchte seinen Beitrag leisten, möchte nicht das Gefühl haben, abhängig zu sein von irgendjemanden. Viele sehen den Schritt in eine Sozialberatungsstelle als Spirale nach unten anstatt als Chance für die Zukunft. Ich glaube, es liegt oft auch daran, dass Menschen zögern und zu lange zuwarten – aus verschiedenen Gründen. Derzeit entwickeln wir jedenfalls unsere Angebote auch online weiter, damit wir Frauen, Männer und auch Kinder noch niederschwelliger erreichen können.

STANDARD: Corona hat viele soziale Probleme verschärft. Haben Sie nach fast zwei Jahren den Eindruck, dass wir und auch die Politik irgendwelche Erkenntnisse daraus ziehen?

Parr: Die Pandemie hat viele Problemfelder, die wir seit Jahren kennen, noch stärker sichtbar gemacht. Auf der anderen Seite hat sie neue Nöte geschaffen. Wir sehen, dass gerade Frauen sehr stark betroffen waren und sind. Gerade armutsbetroffene Frauen leben auf sehr kleinem Raum – und dort etwa Homeschooling zu bewerkstelligen ist eine enorm hohe Belastung. Inzwischen sehen wir auch, dass vor allem Frauen ihre Arbeitszeit reduziert haben oder ganz aufgehört haben zu arbeiten, um das alles zu schaffen.

Anna Parr, Generalsekretärin der Caritas Österreich: "Wir haben eine hohe Solidarität in diesem Land."
Foto: Caritas Österreich

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass in der Pflege vorwiegend Frauen arbeiten, viele mit Kindern – die aber natürlich am Arbeitsplatz gebraucht werden. Das bestätigt, was wir seit langer Zeit fordern: Wir brauchen flächendeckend Kinderbetreuungseinrichtungen, möglichst kostenlos oder zumindest leistbar. Und wir brauchen Förderungen für Unternehmen mit Betriebskindergärten, die sich mit den Öffnungszeiten an den Dienstzeiten der Beschäftigten orientieren. Frauen müssen die Chance haben, Vollzeit arbeiten zu gehen.

Aktuell arbeiten Frauen mit Kindern unter 15 Jahren zu 73 Prozent in Teilzeit, bei den Vätern sind es sieben Prozent. Wir haben also noch immer das Modell, dass der Mann der Familienernährer ist und die Frau die Zuverdienerin – das müssen wir ändern.

STANDARD: Vor Weihnachten wird das Thema Armut stärker in den Fokus gerückt. Und sonst?

Parr: Wir setzen uns 365 Tage im Jahr gegen Armut ein, das heißt, wir sprechen auch 365 Tage im Jahr darüber. Wir haben eine hohe Solidarität in diesem Land. Auch Menschen, die nicht viel Geld haben, geben trotzdem etwas und helfen, damit wir helfen können. Aber was wir massiv vermissen, sind die großen Reformen, die wir dringend brauchen. Wir warten schon zu lange auf eine Reform des Arbeitslosengeldes und der Sozialhilfe. Ebenso gibt es zu wenige präventiven Leistungen, etwa im Unterhaltsbereich. Wir warten auch schon lange auf eine aktuelle Kinderkostenstudie, denn die letzte Erhebung fand in den 60er-Jahren statt. Die Politik sagt, sie kann nur auf Basis dieser Studie neue Regelbedarfssätze für das Unterhaltsrecht setzen – aber das zieht sich alles schon zu lange. Die alten Richtsätze sind jedenfalls zu niedrig.

STANDARD: Und die Kinder, die gar keinen Unterhalt bekommen?

Parr: Es gibt vom Staat einen Unterhaltsvorschuss, den allerdings nicht alle Kinder bekommen, die ihn bräuchten. Dieser Vorschuss ist ein Regress: Der Bund springt beispielsweise ein, wenn der Vater den Unterhalt nicht zahlen kann. Wenn der Staat in Erfahrung bringt, dass er den Vorschuss womöglich nicht zurückbekommt, weil der zahlungspflichtige Partner – oder die Partnerin – kein Geld hat, schwer erkrankt oder arbeitslos ist, dann leistet er diesen Vorschuss auch nicht. 36 Prozent der Kinder in Österreich, die Unterhalt bekommen müssten, bekommen ihn nicht, und auch keinen Unterhaltsvorschuss und keine Waisenrente – sie bekommen nichts. Das sind 59.000 Kinder. Das ist beschämend, und ich weiß, dass es in einem Land wie Österreich möglich ist, dass jedes Kind den Mindestunterhalt bekommen kann, den es braucht. (Beate Hausbichler, 7.12.2021)