Emmerich Tálos war Professor an der Universität Wien und hat die faschistischen Charakteristika des Regimes unter Engelbert Dollfuß herausgearbeitet.

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Der neue Innenminister Gerhard Karner hat ein Problem: Noch vor seiner ersten Amtshandlung sah sich der ÖVP-Politiker gezwungen, sich von Extremismen aller Art zu distanzieren. Ausgelöst hat dies ein kleines Dollfuß-Museum in Texingtal, jener Gemeinde, die Karner als Bürgermeister bis zu seinem Ministerposten zu verantworten hatte.

Engelbert Dollfuß schaltete als damaliger Bundeskanzler 1933 die Demokratie aus, ließ etliche Regimegegner töten und schuf einen autoritären "Ständestaat" – ein Begriff, den der studierte Historiker und emeritierte Professor für Politik- und Staatswissenschaft der Universität Wien, Emmerich Tálos, entschieden ablehnt. Tálos forschte zur Zeit zwischen 1933 und 1938 und erklärt im STANDARD-Interview, warum Begriffe wie "Ständestaat" oder "Kanzlerdiktatur" verharmlosend sind und welche Rolle die ÖVP in der aus seiner Sicht mangelhaften Aufarbeitung der Geschichte spielt.

STANDARD: Herr Tálos, haben Sie dem Museum in Texingtal jemals einen Besuch abgestattet?

Tálos: Nein, ich wüsste auch nicht, warum sich ein Besuch dort lohnen sollte. Es ist dort kein differenzierter Blick auf die Geschichte des Austrofaschismus zu erwarten.

STANDARD: Sie verwenden Begriff Faschismus, meist ist aber vom österreichischen "Ständestaat" die Rede. Warum verzichten Sie darauf?

Tálos: Meine Forschung hat klar ergeben, dass das Herrschaftssystem zwischen 1933 und 1938 kein "Ständestaat" war. Von der geplanten berufsständischen Ordnung wurde fast nichts umgesetzt. Der Begriff spiegelt die Selbsteinschätzung der damals Herrschenden, ist ein geschönter Terminus und diente der ÖVP als Legitimation ihrer Vorgängerorganisation, der Christlichsozialen Partei, und vor allem Dollfuß.

STANDARD: In Ihrem Buch aus dem Jahr 2013 schrieben Sie, dass sich die "Geister" noch immer in der Beurteilung der Zeit zwischen 1933 und 1938 "scheiden". Nicht nur in der ÖVP, auch in der Wissenschaft.

Tálos: Keineswegs geht es da nur um die ÖVP. Die Volkspartei hatte aber in der gesamten Zweiten Republik ein großes Gewicht. Viele Historiker übernahmen den Begriff aufgrund ihrer Nähe zur Partei. Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde langsam vom Begriff des "Ständestaats" Abstand genommen. In konservativen Kreisen haben sich Worte wie "Kanzlerdiktatur" oder "Dollfuß-Schuschnigg-Regime" etabliert.

STANDARD: Was stimmt an diesen Begriffen nicht?

Tálos: Sie alle vermeiden, das damalige Österreich in die Nähe des Faschismus zu bringen. Diese Begriffe sagen über den Inhalt des Herrschaftssystems nichts aus. "Dollfuß-Schuschnigg-Regime" sagt nur, dass in diesem Regime Dollfuß und Kurt Schuschnigg wichtig waren. Der Begriff "Kanzlerdiktatur" zielt nur auf Stil und Struktur der Herrschaft ab, sagt aber nichts über Inhalt und Interessen.

STANDARD: Warum also war Dollfuß ein Faschist?

Tálos: In meiner Analyse komme ich zum Schluss, dass es sich in Österreich zwischen 1933 und 1938 um eine Variante faschistischer Herrschaft handelte. Sie nahm Anleihen beim italienischen und deutschen Faschismus, hatte vor allem Ähnlichkeiten mit dem italienischen Herrschaftssystem. Es gibt selbst Gemeinsamkeiten mit dem deutschen Faschismus, aber auch Unterschiede, insbesondere betreffend den Terror. Als faschistische Charakteristika besonders hervorzuheben sind die Beseitigung der bestehenden Parteien, die Etablierung einer politischen Monopolorganisation, der Vaterländischen Front, Aspekte der politischen Ästhetik wie Führerverehrung und Massenfestspiele, der fanatische Antisozialismus oder der Antiparlamentarismus.

Engelbert Dollfuß schaltete als christlichsozialer Bundeskanzler 1933 das Parlament aus und ließ etliche politische Gegner hinrichten.
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STANDARD: Warum ist es wichtig, die Debatte über den Charakter des austrofaschistischen Herrschaftssystems zu führen?

Tálos: Solche Diskussionen sind in einer Demokratie essenziell, um die Unterschiede zur faschistischen Diktatur und die aus der Beseitigung der Demokratie resultierenden prekären Konsequenzen deutlich zu machen. Die Rolle von Dollfuß und der Charakter des Herrschaftssystems wurden so lange übertüncht und verharmlost. Es ist ja nicht so, dass sich die ÖVP bislang um Klarheit bemüht hätte. Heute kommt die Kritik nicht mehr nur vom politischen Gegner, man kann sie nicht mehr einfach wegwischen.

STANDARD: Im Jahr 2011 hat aber auch die ÖVP einer Rehabilitation der Opfer des damaligen Regimes zugestimmt.

Tálos: Ja, ein solches Gesetz war unvermeidbar. Die ÖVP schaffte es in gewohnter Ambivalenz erfolgreich, bei aller letztendlichen Zustimmung jeden Bezug zum Faschismus im Gesetz zu vermeiden.

STANDARD: Bis 2017 hing in den ÖVP-Klubräumen ein Porträt von Dollfuß. Was stört daran?

Tálos: Dollfuß hat nicht nur wesentlich zur Ausschaltung der Demokratie in Österreich beigetragen, sondern hat sich auch noch erfreut gezeigt, dass in der damaligen Debatte über die autoritäre Verfassung der Begriff Parlament nicht vorkommt. Ob die ÖVP nun tatsächlich für mehr Klarheit sorgen will, wird sich daran zeigen, wie auf die aktuelle Kritik reagiert wird – auch wenn es nur ein kleines Provinzmuseum betrifft. (Laurin Lorenz, 8.12.2021)