“Madame Stella, aidez-nous!” sagte die verzweifelte Stimme einer Frau am Telefon. „Helfen Sie uns! Wir stehen zwischen zwei Lavaströmen. Lava ist überall. In welche Richtung sollen wir gehen?“ Ich war zu dem Zeitpunkt bereits in Sicherheit in Kigali, der Hauptstadt Ruandas. Die Frau befand sich in Goma, im Osten der Demokratischen Republik Kongo, von wo ich gerade geflohen war. Der zehn Kilometer von Goma entfernt liegende Vulkan Nyiragongo war am Tag davor, dem 17. Jänner 2002, ausgebrochen. Die Lava verschüttete in Folge ein Drittel der am Kivu-See gelegenen Stadt und die Hälfte des nördlich zwischen der Stadt und dem Vulkan gelegenen Flughafens. Ich konnte der Frau, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere, nicht helfen. Ich war nur erleichtert, selbst nicht mehr in Goma zu sein. Ihre Worte und Tonfall bleiben unvergesslich.  

Schönheit und Apokalypse

Direkt an der Grenze mit Ruanda gelegen ist die Gegend rund um Goma atemberaubend schön. Der riesige Kivu-See, auf einem Hochplateau auf 1.500 Metern gelegen, ist von üppiger tropischer Vegetation umgeben. Nördlich des Sees befindet sich eine hoch aufragende Vulkankette, majestätisch und oft von Wolken verhangen. Im Virunga-Nationalpark, einem Unesco-Welterbe, der sich mit einer Länge von 300 Kilometern an der Grenze mit Ruanda und Uganda entlangzieht, leben Berggorillas. Das Klima ist angenehm, die tropische Hitze durch die Höhe abgeschwächt. Auch Moskitos und die durch sie übertragene Malaria sind hier weniger prävalent als im Rest des Landes. Bodenschätze gibt es im Ostkongo reichlich. Gold, Kobalt, Koltan, Kupfer und Diamanten machen den Kongo zu einem der rohstoffreichsten Länder der Erde.

Trotzdem herrscht unvorstellbares Elend, damals wie heute. Krieg, Flüchtlingsströme, Gewalt gegen Frauen und Krankheiten machen die Kivu Region zur „Hölle auf Erden“, wie ein Titel in der "New York Times" vor 19 Jahren nach dem Vulkanausbruch titelte. Bewaffnete Gruppen, zum Teil von benachbarten Ländern unterstützt, treiben seit Jahrzehnten ihr Unwesen. Sie operieren in einem Klima der Straflosigkeit und finanzieren sich ihre Waffen durch den Verkauf der Bodenschätze. Auch Choleraepidemien, Meningitis oder Ebola-Ausbrüche kommen in der Region in regelmäßigen Abständen vor. Erst vor kurzem, im Oktober, bestätigte die Weltgesundheitsorganisation erneute Ebolafälle in der Kivuregion. 

Die verstümmelnde sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen hat in der Region unerträgliche Dimensionen angenommen. 2010 wurde sie von einer hochrangigen UN-Vertreterin als „Vergewaltigungs-Hauptstadt der Welt“ bezeichnet. Auch im vergangenen Jahr berichtete UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, beispielsweise von einem alarmierenden Anstieg sexueller Gewalt in Tanganyika im Südosten des Landes. "Conflict related sexual violence remains widespread", berichtete die Uno.  

2002 brach der Vulkan aus, Hundertausende mussten fliehen.
Foto: REUTERS/GeorgeMulala

Peacekeeping Mission

Ich war im Herbst 2001 als Associate Political Affairs Officer mit MONUC, der friedenserhaltenden Mission der Vereinten Nationen in der Demokratischen Republik Kongo, in Goma stationiert. Der Völkermord 1994 in Ruanda, die damit verbundenen Flüchtlingsströme und ein mehrjähriger Krieg mit Beteiligung zahlreicher Nachbarstaaten hatten den Kongo ins Chaos gestürzt. Nach dem Friedensvertrag von Lusaka 1999 war MONUC vom Uno-Sicherheitsrat geschaffen worden, um die Einhaltung der Waffenruhe und den Truppenabzug zu überwachen. In Goma befand sich zu dem Zeitpunkt der Hauptsitz einer Rebellengruppe (RCD-Goma), die ein Drittel des Landes der Größe Westeuropas kontrollierte. Für Uno-Personal war die Gegend als Sicherheitsstufe 4 eingestuft. Bei Stufe 5 wird evakuiert. Wir bekamen Hazard Pay und alle drei Monate eine zusätzliche Woche Urlaub. Das Stadtgebiet von Goma durften wir nur mit einem bewaffneten Konvoi verlassen. In der Stadt gab es eine nächtliche Ausgangssperre für Uno-Personal.

Kindersoldaten und sexuelle Gewalt

Kindersoldaten und ihre Waffen sah man überall. Sie fuhren auf den Ladeflächen von Trucks durch die Stadt. Sie waren als Leibwächter der Rebellen eingesetzt. Fünfzehn- oder sechzehnjährige Kinder, die nichts anderes kannten als Gewalt, Ausbeutung und Krieg. Stolz und triumphierend hielten sie ihre Waffen hoch. „Am Samstag war ich in einer Besprechung mit dem Sicherheitsminister von RCD-Goma. Wir waren in seinem Haus im ehemaligen Palast von Mobutu. Riesig, direkt am See gelegen mit wunderbarer Aussicht. Die Leibwächter waren höchstens 14 oder 15 Jahre alt", schrieb ich in einer E-Mail. Dieser Sicherheitsminister hatte am 3.000 Kilometer langen Marsch der Rebellen Richtung Kinshasa teilgenommen, um Mobutu zu entmachten und Laurent Kabila an die Macht zu bringen. Und: “Gestern waren die gesamten Anführer von RCD-Goma im Hotel für eine Besprechung. Ihre Leibwächter, Jugendliche mit Gewehren, waren überall.“ 

Die Frauen im Kongo tragen übermenschliche Lasten mit ihren ausgelaugten Körpern. Sie sind in bunte Tücher gehüllt, gehen barfuß oder mit aus Reifen hergestellten Flip-Flops. Sie tragen ein Kind am Rücken in einem verknoteten Tuch, halten ein weiteres an der Hand und transportieren gleichzeitig schwere Lasten auf dem Kopf. Sie arbeiten unermüdlich auf den Feldern und verkaufen ihre Waren auf Märkten.

Der Friedensprozess stand 2001 am Anfang, die an Frauen und Mädchen verübten Gräueltaten drangen erst langsam an die Öffentlichkeit. Frauenorganisationen sollten verstärkt in den Friedensprozess eingebunden werden. Statt über Politik sprachen die Frauen über erlebte Grausamkeiten. Sie beschrieben Massenvergewaltigungen, Unterleibsverstümmelungen durch Gewehre, aufgeschlitzte Bäuche, oder Vergewaltigungen ihrer Kinder, denen sie zusehen mussten. 

Der Vulkan bricht aus

Dann brach der Nyiragongo am Morgen des 17. Jänner 2002 aus. Die Erde in Goma begann zu beben und Rauchschwaden verhüllten den Vulkan. Der Krater war zu dem Zeitpunkt bis zum Rand mit Lava angefüllt. In den Tiefen des Kivu-Sees lagerten riesige Mengen Methan und Kohlendioxid, die durch in den See fließende Lava in einer tödlichen Explosion freigesetzt wurden. Die Lava des Nyiragongo war beim letzten großen Ausbruch 1977 außergewöhnlich schnell geflossen. MONUC-Personal wurde zunächst gesagt, das Notwendigste zu packen und zum Flughafen zu fahren. Wir saßen bereits in den für unsere Evakuierung geschickten Flugzeugen, als die Anweisung kam, wieder in die Stadt zurückzukehren, da die Lava aufgehört hätte, in Stadtrichtung zu fließen.

Wenig später erreichten die Lavaströme doch den Flughafen und die Piloten sahen sich gezwungen, ohne Passagiere an Bord abzufliegen. Wir saßen fest. Der einzige Fluchtweg für uns führte nun über die Grenze nach Ruanda, die zu dem Zeitpunkt geschlossen war, sowohl für die kongolesische Bevölkerung als auch für die UN. Gegen Ende des Tages floss die Lava schließlich durch die Stadt und die Grenze wurde geöffnet. Gewaltige Menschenströme setzten sich in Bewegung. UN-Personal bildeten einen Fahrzeug-Konvoi und begann nach Einbruch der Dunkelheit die Fahrt nach Kigali, wo wir in den Morgenstunden eintrafen. Ich wurde danach in der Hauptstadt Kinshasa stationiert und kehrte nicht mehr nach Goma zurück. 

In der Kobalt-Schatzkammer der Erde

Heuer brach der Nyiragongo im Mai nach fast 20 Jahren erneut aus. Fotos und Berichte gleichen denen von damals, sowohl humanitäre Situation als auch Menschenrechtslage sind katastrophal. Die Zahl der Schutzbedürftigen ist im Land von 15,6 Millionen im Jahr 2020 auf 19,6 Millionen im Jahr 2021 gestiegen. Bewaffnete Gruppen setzten weiterhin sexuelle Gewalt als Taktik ein, um sich die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen zu sichern. Die Uno berichtet, dass auch die Streitkräfte der Demokratischen Republik Kongo oder die kongolesische Polizei in zahlreichen Fällen Täter sind. Die Liste der verifizierten schweren Verstöße gegen Kinder, gemäß der Kinderrechtskonvention als unter 18-Jährige definiert, ist lang: Rekrutierung und Instrumentalisierung im Kampf, Entführung und sexuelle Gewalt, zunehmende Angriffe auf Schulen, Kinderarbeit in den Minen. Covid-19 hat die prekäre Situation noch zusätzlich verschärft. Mit mehr als 17.000 Soldaten und Zivilisten ist MONUSCO, zu meiner Zeit MONUC genannt, heute eine der größten friedenserhaltenden Missionen der Vereinten Nationen. 

Der Nyiragongo gehört zu den aktivsten Vulkanen Afrikas. Hier ein Bild von Februar.
Foto: REUTERS/HEREWARD HOLLAND
Im Mai brach der Nyiragongo nach 20 Jahren aus. Die Lava zerstörte Häuser nahe der Stadt Goma.
Foto: AFP/JUSTIN KATUMWA

"Diejenigen, die ihre Augen abwenden, sind mitschuldig.“

Denis Mukwege, kongolesischer Gynäkologe und Gründer eines Krankenhauses am Kivu-See, erhielt 2018 den Friedensnobelpreis für seine Arbeit mit Opfern sexueller Gewalt. „Die erste Patientin des Panzi-Spitals 1999 war ein Vergewaltigungsopfer, deren Genitalien durch Kugeln zerstört worden waren. Die makabre Gewalt kannte keine Grenzen. Unglücklicherweise hat diese Gewalt seither nicht aufgehört“, eröffnete er seine Rede. Mukwege sprach über vergewaltigte Kleinkinder und beschrieb im Detail die Verletzungen seiner Patientinnen. Er prangerte die Straflosigkeit der Täter an, aber auch die Untätigkeit der Öffentlichkeit. „Ich lebe im reichsten Land der Erde. Aber Gold, Koltan, Kobalt und andere Rohstoffe tragen zum Konflikt bei.“ Smartphones oder Autobatterien beinhalten Koltan oder Kobalt. „Diese Rohstoffe werden von jungen Kindern ausgegraben, die Opfer sexueller Gewalt sind.“ Mukwege forderte Konsumenten auf, zu verlangen, dass diese Produkte unter besseren Bedingungen hergestellt werden sollten. „Wenn wir einfach die Augen verschließen, sind wir alle Komplizen der Tragödie. Diejenigen, die ihre Augen abwenden, sind mitschuldig.“

Mukwege widmete seinen Nobelpreis, den er gemeinsam mit Nadia Murad, einer jesidischen Menschenrechtsaktivistin aus dem Irak erhielt, Opfern sexueller Gewalt auf der ganzen Welt. Der Hunger der Welt nach Rohstoffen wie Koltan und Kobalt wird in den kommenden Jahren stark anwachsen, um den Klimawandel zu bekämpfen. Der Preis von Kobalt hat sich beispielsweise seit Jänner dieses Jahres verdoppelt. Zwei Drittel der globalen Kobaltreserven lagern im Kongo. Bleibt zu hoffen, dass die kongolesische Bevölkerung tatsächlich von diesem Boom profitiert. (Stella Schuhmacher, 16.12.2021)

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