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Trostlosigkeit durch eine kaum sühnbare Schuld: Sandra Bullock als Mörderin eines Sheriffs.

AP/French

IMit ihrem Spielfilmdebüt Systemsprenger (2019) hat Regisseurin Nora Fingscheidt fraglos ein Ausrufezeichen im deutschen Kino gesetzt: Die Geschichte um ein verhaltensauffälliges Kind, das zwischen bodenloser Aggression und Sehnsucht nach Liebe lavierend alle Betreuungssysteme der deutschen Kinder- und Jugendhilfe sprengt, barst vor Authentizität und Unmittelbarkeit.

Nach diesem fulminanten Start schien es naheliegend, dass die 1983 geborene Braunschweigerin für The Unforgivable ins Boot geholt wurde. Wie Systemsprenger handelt auch die Netflix-Produktion von Menschen, die aus dem System herausgefallen sind. Hier verkörpert durch eine ausgemergelte, blasse, einfach unfassbar trostlose Sandra Bullock alias Ruth Slater. Ruth hat, dies legen die Rückblenden nahe, vor Jahren einen Sheriff erschossen, der sie und ihre kleine Schwester wegen Überschuldung aus dem Elternhaus befördern sollte.

In der Fischfabrik

Der Film beginnt mit Ruths Entlassung nach zwanzigjähriger Haft. Die Frau bekommt einen Bewährungshelfer (Rob Morgan) an die Hand, kein schlechter Typ. Er sagt ihr aber Dinge wie: "Du bist überall eine Polizistenmörderin. Je eher du das verstehst, desto besser." Ruth wird in einem heruntergekommenen Sozialwohnhaus mit Heroinsüchtigen auf dem Zimmer untergebracht, heuert in einer übel riechenden Fischfabrik an und macht sich auf die Suche nach der verlorenen Schwester, die bei einer Pflegefamilie lebt.

Der von Bullock mitproduzierte Film, der auf der britischen Miniserie Unforgiven von 2009 basiert, zeigt hier sehr deutlich, dass Ruth ein aus dem System ausgestoßener Mensch ist. Unverzeihlich eben ist ihre Vergangenheit.

Doch obwohl sich der Film passabel anlässt und Bullock als die vom Leben geschredderte Figur stark aufspielt, fragt man sich alsbald: Ist diese Genrearbeit tatsächlich von Fingscheidt? The Unforgivable vollzieht mit Blick auf Systemsprenger eine gegensätzliche Bewegung: Holte ihr radikales Debüt die Realität in den Film und den Zuschauer nahe ans Geschehen, flüchtet sich Fingscheidts erste US-Produktion in einen fast schon ärgerlich konventionellen Hollywood-Modus. Die Backflashs versuchen ganz altmodisch ein emotionales Fundament zu schaffen, die Musik von Hans Zimmer und David Fleming dramatisiert das Geschehen penetrant, und der Blick ins Milieu bleibt schematisch. Es mag daran liegen, dass das Drehbuch in diesem Fall nicht von Fingscheidt selbst stammt, sondern von dem Trio Peter Craig, Hillary Seitz und Courtenay Miles.

Jedenfalls wirkt The Unforgivable wie ein halb gares Sozialdrama mit Thriller-Elementen, das nach amerikanischen Erzählbauplänen zusammengezimmert wurde. Thriller deshalb, weil die beiden Söhne des getöteten Sheriffs auf Rache sinnen. Zwei, das muss man einfach so sagen, selten dämlich geschriebene Einfaltspinsel, die ihrem Papi nachweinen. Dass dieser Subplot wenig verwunderlich in einem rostigen Geräteschuppen endet, passt zu diesem wenig inspirierten Film.

Sympathischer Kollege

The Unforgivable funktioniert dann am besten, wenn er nahe bei Bullocks Figur bleibt; wenn er ihre Annäherung an den Anwalt John Ingram (Vincent D’Onofrio) zeigt, der in ihrem Elternhaus wohnt und ihr schließlich zu einem Treffen mit der Pflegefamilie ihrer Schwester verhilft. Neben der Leistung von Bullock überzeugen D’Onofrio, Viola Davis als Frau des Anwalts und Jon Bernthal als sympathischer Arbeitskollege, der Ruth näherkommt.

Dennoch lässt sich das Gefühl nicht abschütteln, dass für diesen schnöden Film eine der talentiertesten deutschen Filmemacherinnen verheizt wurde. Man darf auf ihre nächste Arbeit hoffen. (Jens Balkenborg, 9.1.2021)