Magnus Carlsen schaut auf das zehnte WM-Duell 2021.

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Nepo gibt sich zurückhaltend.

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Dubai – Es gibt eine alte Schachweisheit aus Sowjetzeiten, die sinngemäß lautet: Hast du eine Partie verloren, dann mach in der nächsten Runde lieber Remis, um dein Gleichgewicht zurückzuerlangen. In Partie neun war es Jan Nepomnjaschtschi nicht gelungen, diesem Ratschlag Folge zu leisten. Der Herausforderer hatte zum zweiten Mal hintereinander, zum dritten Mal innerhalb von nur vier Runden verloren und lag vor der zehnten Partie praktisch chancenlos mit 3:6 zurück.

Was tut man in so einem Fall? Es sind noch fünf Partien zu spielen, Nepomnjaschtschi ist augenscheinlich außer Form und sitzt einem Mann gegenüber, den viele für den besten Schachspieler aller Zeiten halten. Unter anderem hält Magnus Carlsen seit 2018 den Rekord für die längste Serie an Turnierpartien auf höchstem Niveau ohne Niederlage. In Worten: einhundertfünfundzwanzig. Anders gesagt, eine Niederlage Carlsens ist ein ziemlich seltenes Ereignis. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Weltmeister sich von seinem Herausforderer ganze drei der verbliebenen fünf Spiele abnehmen lässt, rangiert vor der heutigen zehnten Partie daher im statistisch nur mehr schwer darstellbaren Bereich.

Der österreichische Schachgroßmeister Markus Ragger analysiert Partie 10.
Österreichischer Schachbund

Russische Solidität

Jan Nepomnjaschtschi weiß das natürlich alles. Er führt an diesem Mittwoch wieder einmal die schwarzen Steine und bleibt der soliden Russischen Verteidigung treu, die er für den Wettkampf vorbereitet hat. Viele hatten angesichts des Punktestands eine asymmetrische, aggressivere Verteidigung wie die Sizilianische Partie von ihm erwartet. Aber Nepo ist nach zwei Partien, in denen er jeweils kurzzügig Material einstellte, offenbar vor allem darum bemüht, sein Grundvertrauen in seine schachlichen Fähigkeiten zurückzuerlangen.

Das wiederum stellt Magnus Carlsen vor die Frage, was er heute mit Weiß erreichen möchte. Auch wenn sein Gegner durch die drei Niederlagen psychisch angeknackst sein mag: Angesichts des komfortablen Vorsprungs wäre es vermessen, so mag Carlsen denken, sich einer ruhigen Partie und einem möglichen frühen Friedensschluss zu widersetzen. Immerhin fehlen dem Weltmeister nur noch anderthalb Punkte, um seinen Titel zu verteidigen. Schon am Samstag könnte es so weit sein, wenn der Punkt bis dahin dreimal geteilt wird.

Diese Überlegung dürfte der Grund sein, warum Carlsen seinen Springer im vierten Zug nach d3 anstatt nach f3 zurückzieht. Das sieht zunächst seltsam aus, weil das weiße Rössel hier den eigenen Damenbauern blockiert und so die weitere Entwicklung erschwert. Das Feld d3 ist aber nur eine Zwischenstation, der Springer bewegt sich bald weiter nach f4, und vor allem: Die Damen stehen einander in dieser selten gespielten Variante sogleich auf der e-Linie gegenüber. Da weiße wie schwarze Monarchin an ihre Gatten, nun ja, gefesselt sind, wird es früher oder später zum Abtausch der stärksten Figuren kommen. Addiert man dazu noch die symmetrische Bauernstruktur und die beiderseits flüssige Figurenentwicklung, dann zeichnet sich ein unentschiedener Partieausgang bereits in der Eröffnung am Horizont ab.

Profi und Spieler

Und doch könnte alles auch ganz anders kommen. Im 8. Zug versinkt Magnus Carlsen in tiefes Nachdenken, weil sich ihm plötzlich eine vielversprechende Möglichkeit auftut. Wenn der Norweger mit Le3 die e-Linie vorübergehend verstopft und damit das Fernduell der beiden Damen unterbricht, dann ändert sich der Charakter der Stellung innerhalb weniger Züge völlig. Weiß könnte lang rochieren und seine Königsflügelbauern in Richtung des bald kurz rochierten schwarzen Königs werfen. Der Schwarze könnte dasselbe am Damenflügel tun. Ein Wettrennen, welcher Angriff zuerst durchschlägt, wäre das Resultat.

Je länger Carlsen nachdenkt, umso deutlicher spürt man, dass er nur zu gerne so spielen möchte, vor allem deshalb, weil Weiß in diesem Szenario konkret über die besseren Chancen verfügt. Nach einer gefühlten halben Stunde entscheidet sich der Weltmeister dennoch dagegen und schiebt stattdessen seinen c-Bauern ein Feld nach vorne. Das ist korrekt, solide – und ziemlich langweilig. Aber Langeweile spielt Carlsen heute in die Hände. Der Profi hat über den Spieler triumphiert, der gerne ausprobiert hätte, ob es mit Schwarz nach 8. Le3 nicht vielleicht rasch bergab geht.

Ab in den Ruhetag

Danach geht alles recht schnell: Eher pflichtschuldig als überzeugend sucht Carlsen nach dem Damentausch nach Wegen, den minimalen Vorteil, über den Weiß hier noch verfügt, in etwas Greifbares zu verwandeln. Nepomnjaschtschi spielt noch schneller als in den letzten Partien, seine Bedenkzeit braucht er heute quasi nicht. Im Gegensatz zu Partie acht und neun stellt der Russe diesmal allerdings nichts ein. Es wäre in einer so simplen Stellung für einen Mann seines Niveaus auch ein Kunststück.

Nach dem planmäßigen Abtausch zahlreicher Spielsteine und -Figuren ist rasch der 41. Zug erreicht, in dem die Spieler sich laut WM-Reglement auf ein Remis einigen dürfen. Beide wirken erleichtert, die Pflichtaufgabe hinter sich gebracht zu haben und sich nun einem Ruhetag gegenüber zu sehen. Es steht 6,5:3,5 für den Weltmeister.

Am Freitag führt Jan Nepomnjaschtschi in Partie 11 zum planmäßig vorletzten Mal in diesem Match die weißen Steine. Es darf erwartet werden, dass der Herausforderer nach erfolgreicher Stabilisierung noch einen ernsthaften Versuch unternehmen wird, seinen ersten Sieg zu erzielen.

Noch während der laufenden Partie verbreitet sich in der Schachwelt die unerfreuliche Kunde von der Absage der für Jahresende geplanten Schnell- und Blitzschach-WM in Kasachstan. Sorge um die Ausbreitung der neuen Variante des Coronavirus dürfte der (nicht explizit genannte) Grund dafür sein, dass das bei Spielern wie Publikum höchst beliebte Turnier verschoben wird. (Anatol Vitouch, 8.12.2021)