Wir sollten Verkehrspolitik radikal neu denken. Das beginnt mit einer Utopie. Ein Gastkommentar als Denkanstoß zur Mobilitätsdebatte von Musiker und Produzent Stefan Frankenberger. Lesen Sie zum Lobautunnel-Aus auch den Gastkommentar von Alexander Behr: Das große Sorgenkind Verkehr, und Rudolf Schicker zum Lobau-Tunnel-Aus.

Mit der L1 nach Marrakesch? Und mit der L4 nach Istanbul? Und wer braucht dann Autobahnen? Noch ist der Metropa-Plan nur ein Gedankenexperiment.
Foto: Metropa/Studio77

Die Zeichen in Europa stehen auf Veränderung. Im Zuge von Digitalisierung und Dekarbonisierung neigt sich eine weitere alte Zeit dem Ende zu – politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Wir stehen an Abgründen und Steilwänden. Beides kann erhebend sein.

Die Klimakonferenz in Glasgow, das österreichische Klimaticket und der Stopp des Lobautunnels in Wien sind strahlkräftige Hoffnungsschimmer. Ihr gemeinsamer Tenor ist die Notwendigkeit einer radikal neuen Verkehrspolitik. Das zentrale Werkzeug dafür ist die Bahn. Das heißt für Europa: Wir brauchen die Neuorganisation des europäischen Bahnverkehrs – und das Projekt Metropa kann dafür ein Denkanstoß sein.

Unveräußerliches Menschenrecht

In der modernen Welt ist Mobilität ein unveräußerliches Menschenrecht. Sie ist zugleich der Weg in eine moderne Verkehrs- und Klimapolitik und der Schlüssel zu einer echten europäischen Integration, die europäische Werte mit einem klar erkennbaren Nutzen verbindet. Europa als zusammenhängender Kultur- und Wirtschaftsraum hat nun die Chance und Pflicht, diese Mobilität sozial gerecht umzusetzen.

Wir brauchen daher ein hochfrequentes, flächendeckendes Superschnellbahnnetz, das alle Europäerinnen und Europäer miteinander verbindet, und das kostenfrei – in Anlehnung an die ersten zaghaften Versuche zum Beispiel in Luxemburg, wo man für die öffentlichen Verkehrsmittel kein Ticket mehr braucht. An die Stelle der – größtenteils willkürlich gezogenen – Grenzlinien treten nach und nach Verbindungslinien. Sie bilden das Aderwerk eines Organismus, der zum jetzigen Zeitpunkt leider nicht über eine gemeinsame Währung und Wirtschaftspolitik hinauskommt: Es gibt keine Verfassung, stattdessen eine komplizierte Bürokratie, und es gibt keine einenden Bilder, die es den Bürgerinnen und Bürgern dieses Kontinents leichter machen würden, sich als Teil davon zu betrachten.

Gemeinsames Netz

Der Weg in die grenzenlose "Europäische Republik", in der Austausch, Handel, Klimaneutralität, Mobilität und soziale Gerechtigkeit gewährleistet sind, führt über ein gemeinsames Netz, das allen dient. Keine Frage, dies ist alles noch weit entfernt. Eine Utopie. Aber viele Menschen verstehen diesen Gedanken schon jetzt und warten sehnlichst auf Taten. Sie sind bereit, ihr Verhalten zu ändern und das auch von anderen einzufordern. Auch Konzerne und Regierungen beginnen umzudenken. Es geht in langsamen Schritten voran.

Um dem großen Ziel näherzukommen und uns zugleich von seiner Größe nicht abschrecken zu lassen, sollten wir uns Etappenziele setzen. Mit dem Metropa-Plan vor Augen könnten wir die aktuelle Aufbruchsstimmung nutzen und die Idee auf das existierende Bahnnetz anwenden. Dies könnte man zunächst im Nachtzugbetrieb, der ohnehin gerade ein Revival erlebt, mit niedriger Zugdichte ausprobieren. In einem weiteren Schritt könnte der Betrieb auf die Tageszeiten ausgedehnt werden, in immer kürzer werdenden Takten – bei gleichzeitig sinkenden Preisen –, bis zur Maximalfrequenz von einer halben Stunde an jedem Metropa-Bahnhof.

Hindernisse überwinden

Nationale Zugbetreiber sollen sich endlich auf Abstimmung und technische Vereinheitlichung verständigen, um die bestehenden Hindernisse, wie zum Beispiel unterschiedliche Spurweiten, Betriebsspannungen und nationale Befindlichkeiten, zu überwinden.

In dieser langen Zeit der Vorbereitung werden die Möglichkeiten zu einer Superschnellbahn mit mehr als 300 km/h auf gesamteuropäischer Basis evaluiert. Es müssen Konsortien auf technisch-wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Ebene geschaffen werden. Die Trassen werden über die Autobahnen geplant, die dann in der Zukunft niemand mehr brauchen wird. "Regionalflughäfen" werden rückgebaut und als Ressourcen in das neue Netz integriert. Es entstehen zahllose Arbeitsplätze, Innovation, ganze Wirtschaftszweige. Ihr Ziel ist der Bau eines Weltwunders.

Radikale Lösungen

Apropos Autobahnen: Die Elektrifizierung des (automobilen) Individualverkehrs, wie aktuell sowohl von Wirtschaftstreibenden, Politikerinnen und Politikern propagiert, halte ich für einen unnötigen und sogar gefährlichen Zwischenschritt. Damit werden weder Energie- noch Klima- und schon gar keine Platzprobleme gelöst. Dies gelingt nur dem tatsächlich öffentlichen Verkehr. Der Wechsel von benzin- oder dieselbetriebenen zu E-Fahrzeugen ist nur im Kontext von öffentlichem Verkehr sinnvoll, zum Beispiel als selbstfahrende kommunale Taxis.

Die Idee der Nation, wie wir sie kannten, wird somit peu à peu und klimaneutral in eine neue Idee überführt. Europa ist eine Stadt, und Metropa ihr öffentlicher Nahverkehr. Der europäische Pass ist seine Jahreskarte, und umgekehrt. Metropa wird über Steuermittel finanziert, alles andere wäre unsozial und unmoralisch.

Herausforderungen der Zukunft

Und all jene, die jetzt daran zweifeln, haben die Herausforderungen der Zukunft und ebenso die europäische Idee nicht erfasst. Wir können Mobilität, soziale Gerechtigkeit und europäische Integration zu einer Idee verschmelzen. Darum geht es bei Metropa. Denn wer die Entwicklungen der Gegenwart ernst nimmt, muss sich mit radikalen Lösungen vor allem im Verkehrssektor auseinandersetzen. Schaffen wir ein Klimaticket für den ganzen Kontinent! (Stefan Frankenberger, 9.12.2021)