Es braucht dringend bessere öffentliche Verkehrsanbindungen, sagt der Politikwissenschafter Alexander Behr im Gastkommentar. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar Stefan Frankenberger: Wieso wir Metropa brauchen – ein Denkanstoß, und Rudolf Schicker zum Lobau-Tunnel-Aus.

Stau, Stau, Stau: Wir brauchen mehr Schnellbahn-, Straßenbahn- und Buslinien und Radwege.
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Das Aus für den Lobautunnel, das Verkehrs- und Umweltministerin Leonore Gewessler nun verkündet hat, ist nicht nur ein wichtiger Etappensieg für die Klimabewegungen dieses Landes. Es ist auch ein wohltuendes Zeichen dafür, dass der Kenntnisstand der Verkehrs- und Klimawissenschaften in die politischen Entscheidungen tatsächlich Eingang findet.

Durch das Aus des Lobautunnels wird die Stadt Wien außerdem daran erinnert, dass sie ihr eigenes klimapolitisches Ziel, nämlich den Autoverkehr bis zum Jahr 2030, also in nur acht Jahren, von 27 Prozent auf 15 Prozent zu reduzieren, niemals mit neuen gigantischen Autobahnprojekten erreichen kann. Nach den Maßstäben des 1,5-Grad-Limits, ja nach den Maßstäben, die sich die Stadt Wien selbst gegeben hat, darf nicht nur der Lobautunnel nicht gebaut werden – auch die Pläne für die Stadtautobahn müssen aufgegeben werden.

Gestiegene Emissionen

Insgesamt muss das für Autos vorgesehene Straßennetz rück- und nicht ausgebaut werden. Stattdessen brauchen wir mehr Schnellbahn-, Straßenbahn- und Buslinien und Radwege. Denn der Verkehr ist in Österreich seit langer Zeit das größte Sorgenkind der Klimapolitik: Seit dem Jahr 1990 sind die Emissionen in diesem Sektor um 74 Prozent gestiegen. Einige wenden nun ein: Befindet sich die Automobilindustrie mit der Entwicklung von E-Autos nicht auf dem besten Weg zu einer klimaneutralen Mobilität? Keineswegs: Denn mit einer bloßen Antriebswende ist es nicht getan: Auch E-Autos verbrauchen massenhaft Platz, Ressourcen und Energie, verursachen Klimazerstörung und Feinstaub.

Selbst mit 100 Prozent Ökostrom würde das aktuelle Mobilitätssystem weiterhin gigantische ökologische Devastierungen und Menschenrechtsverletzungen verursachen. Die für die Produktion von E-Autos notwendige Ausbeutung von Eisenerz aus Südafrika, Kobalt und Kupfer aus dem Kongo, Lithium aus den Anden oder Bauxit aus Guinea würde sich potenzieren. Ähnlich wie beim Flugverkehr schlägt auch beim motorisierten Individualverkehr der sogenannte Rebound-Effekt zu: Effizienzsteigerungen bei der Herstellung von Autos sowie beim Verbrauch werden durch das wachsende Verkehrsaufkommen bei weitem zunichtegemacht.

Der Trend bei Neuzulassungen geht außerdem klar in Richtung SUVs und Geländewagen. Im EU-Schnitt emittieren diese übergewichtigen Fahrzeuge zwischen 15 und 28 Prozent mehr CO2 als vergleichbare Modelle der Mittelklasse. Unabhängig davon, ob SUVs mit E-Antrieb oder konventionellem Motor durch den Lobautunnel rollen würden: Der Ressourcen- und Platzverbrauch dieser Autos ist nicht mehr zu rechtfertigen. Sie sind Klimakiller, die von einer wohlhabenden Minderheit genutzt werden.

Bessere Argumente

Ganz offensichtlich ist, dass das Aus für den Lobautunnel ohne die Baustellenbesetzung in Aspern nicht denkbar wäre. Zusammen mit zahlreichen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern haben sie über Monate hinweg die besseren Argumente geliefert – beispielsweise in der "Lobauer Erklärung". Und die Bevölkerung stimmt ihnen zu: Laut einer Umfrage des VCÖ sind 63 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher gegen den Ausbau von Autobahnen und Schnellstraßen. Klar ist auch: Wollen wir die Klimakrise tatsächlich aufhalten, werden solche massenhaften Aktionen des gewaltfreien zivilen Ungehorsams in Zukunft nicht nur legitim, sondern bitter nötig sein. Wächst die Klimabewegung weiter wie bisher, dann werden in Zukunft nicht nur Autobahnbaustellen, sondern auch Ölraffinerien, Flughäfen oder große Fleischfabriken von vielen Menschen blockiert werden. Im Windschatten dieser wichtigen Aktionen können Regierungen die dringend notwendige sozialökologische Transformation umsetzen.

Wiens Bürgermeister Michael Ludwig sagt nun, er erwarte sich Alternativen zum Lobautunnel. Keine Sorge, Herr Bürgermeister: Zahlreiche Konzepte liegen auf dem Tisch und warten nur auf die Umsetzung. Die Alternativen zu S1, Stadtstraße und S8 wurden in Untersuchungen des Instituts für Verkehrswissenschaften der TU Wien und weiteren Studien ausformuliert. Dazu gehört etwa der viergleisige Ausbau der Ostbahnbrücke, Taktverdichtung und Ausbau der S80 sowie das Vorziehen des schon projektierten Ausbaus der Straßenbahnlinien 25 und 27. Denn sicher ist: Die sozialökologische Wende darf auf keinen Fall auf Kosten derjenigen gehen, die unter Staus leiden oder auf das Auto angewiesen sind. Ob im Südburgenland, im Waldviertel oder in Wien-Aspern: Den Bewohnerinnen und Bewohnern dieser Orte muss rasch der günstige Zugang zu einem attraktiven Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln bereitgestellt werden.

Sozialökologischer Systemwechsel

Der sozialökologische Systemwechsel wird weiters nur dann gelingen, wenn durch großmaßstäbige öffentliche Investitionen massenhaft Arbeitsplätze im Bereich des Ausbaus von Zugstrecken, des Rückbaus von Autobahnen oder der lange überfälligen Dämmung von Einfamilienhäusern geschaffen werden. Hier könnte sich vor allem die SPÖ profilieren und gemeinsam mit der Gewerkschaftsbewegung wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen. Die Stadt Wien und die Bundesregierung sollen Arbeitsstiftungen gründen, die in diesen Bereichen gut bezahlte und abgesicherte Jobs vermitteln und zugänglich machen.

Zeichen der Zeit erkennen

Zahlreiche Vorfeldorganisationen der Sozialdemokraten haben das Lobautunnel-Aus begrüßt. Der Bürgermeister muss die Zeichen der Zeit erkennen. Es ist nicht sinnvoll, eine veraltete, überdimensionierte und ressourcenfressende Industrie noch weiter mit milliardenschweren Autobahnprojekten zu stützen und künstlich am Leben zu erhalten. Das rote Wien kann und muss den Sprung zu einer umfassenden sozialökologischen Transformation schaffen. Die Klimabewegung hilft dabei. (Alexander Behr, 9.12.2021)