Bis 2030 werden Berechnungen zufolge 75.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt – um dieses Personal aufzustellen, müsse auch die Ausbildung finanziell gefördert werden, fordern jene, die den Beruf bereits ausüben. Geplant ist das derzeit aber nicht.

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Tamara Archan reicht es. "Was wir alle im Pflegeberuf tagtäglich stemmen, ist katastrophal. Da muss jetzt einfach mehr Geld und Personal her. Warum nichts vorwärtsgeht, ist nicht nachvollziehbar." Die 30-Jährige ist Pflegeberaterin für Palliative Care, Ernährung, Schmerz und Geriatrie in einem Pflegekrankenhaus des Hauses der Barmherzigkeit in Wien. Das heißt, dass sich andere Pflegekräfte bei Fragen zu diesen Themen an Archan wenden können. Was sie mit "katastrophal" meint, ist die personelle Ausstattung in der Pflege ganz allgemein.

Dass die Personalsituation sehr prekär ist, hat die Pandemie deutlich gemacht – Corona als Brennglas für harte Arbeitsbedingungen. Umfragen, etwa der Arbeiterkammer, haben die Auswirkungen dieser Belastung untermauert. Demnach fühlt sich ein Großteil der Pflegekräfte erschöpft und niedergeschlagen, viele denken ans Aufhören.

75.000 zusätzliche Pflegekräfte bis 2030

Das Problem: Genau das Gegenteil sollte der Fall sein. Denn in den nächsten Jahrzehnten braucht es Pflegekräfte dringend: Während die Zahl der pflegebedürftigen Personen in Österreich weiter steigt, rechnen Experten und Expertinnen mit einem Rückgang familiärer Betreuungsressourcen. In Zahlen ausgedrückt heißt das: Um die Betreuungssituation halten zu können, werden bis 2030 etwa 75.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt. Dass es diesen enormen Mehrbedarf gibt, ist schon seit Jahren klar.

Sabrina Grünsteidl ist eine, die trotz der schwierigen Situation in der Branche jetzt in den Beruf einsteigen will. Und das, obwohl sie bereits einen Abschluss in Betriebswirtschaft hat und einige Jahre gearbeitet hat. Seit Herbst studiert sie am Rudolfinerhaus Gesundheits- und Krankenpflege. Was sie erwartet, weiß sie, denn zuvor war Grünsteidl sechs Jahre als Assistentin in der Pflegedirektion im Haus der Barmherzigkeit tätig. "Ich habe dadurch mitgekriegt, was die Leute hier schaffen und leisten, und habe immer mehr gespürt, dass ich das auch lernen möchte und dass ich direkt mit Menschen arbeiten möchte."

Ein wohlüberlegter Wechsel

Sie habe lange und viel darüber nachgedacht, ob jetzt der richtige Zeitpunkt für den Umstieg ist – auch weil es eine finanzielle Belastung bedeutet. Da Grünsteidl, Anfang 30, schon ein Studium abgeschlossen hat und einige Jahre gearbeitet hat, kommt sie derzeit für keine Förderung infrage. Weil das Studium aber sehr zeitintensiv sei und man auch viele Praxisstunden absolviere, sei ein Job daneben kaum möglich. Grünsteidl ist für das erste Jahr in Bildungskarenz und dadurch abgesichert. Im zweiten und dritten Ausbildungsjahr müsse sie wahrscheinlich auf Ersparnisse zurückgreifen und schauen, ob sich ein geringfügiger Job daneben irgendwie ausgehe. Die meisten in ihrer Klasse seien nach der Matura eingestiegen und würden noch zu Hause wohnen. Vier oder fünf Studierende seien in ihrem Alter, auch für sie sei die finanzielle Situation schwierig.

Tamara Archan, Stefan Vetter, Sabrina Grünsteidl und Claudia Fida haben alle unterschiedliche Positionen im Pflegebereich inne – sind sich aber in einem einig: Es braucht mehr Personal. Dafür müsste unter anderem die Ausbildung attraktiviert – sprich finanziert – werden.
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Neben Grünsteidl sitzt ihre ehemalige Chefin, Pflegedirektorin Claudia Fida, und schüttelt den Kopf. "Es ist ein Skandal, dass jemand auf seine Ersparnisse zurückgreifen muss, um diese Ausbildung zu machen." Finanzielle Förderungen bzw. Stipendien gibt es derzeit zwar einige, vor allem allerdings für arbeitslose Personen, die in den Beruf einsteigen wollen.

Vergleiche mit der Polizeiausbildung

Auch Pflegeberaterin Archan findet, dass die Ausbildung für alle, die sie machen wollen, finanziert gehört. Im Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverband, wo sie stellvertretende Präsidentin ist, engagiert sie sich unter anderem als Leiterin der Arbeitsgruppe Junge Pflege – auch für Verbesserungen in der Ausbildungssituation. "Die Polizeiausbildung ist ein gutes Stichwort. Sie sind systemrelevant. Wir sind auch systemrelevant. Ihre Ausbildung ist finanziert, unsere nicht." Während der Ausbildung verdienen Exekutivbedienstete 1765 Euro im ersten Jahr, danach 2180 bzw. 2370 Euro brutto.

Warum es dieses Ungleichgewicht gibt? Laut Archan spiele es eine Rolle, dass der Gesundheitsbereich immer als eine Art karitative Institution gesehen werde und man den Beschäftigten, vor allem dem Pflegepersonal, zuschreibe, hauptsächlich altruistisch zu sein. "Auch wir gehen arbeiten, weil wir Geld verdienen wollen. Punkt."

Die Pflegedirektorin pflichtet ihr bei: "Die hohe soziale Kompetenz und Intelligenz, die es braucht, darf nicht mit Altruismus verwechselt werden." Mit eine Rolle spiele sicher auch, dass der Beruf zu 85 Prozent weiblich sei und das Attribut, selbstlos zu sein, oft Frauen zugeschrieben werde. "Aber das berufliche Selbstvertrauen wächst. Die neue Generation lässt sich nicht mehr alles gefallen." Archan bestätigt: "Wir haben lange nicht laut genug geschrien in der Pflege."

Viele unbesetzte Stellen

Zu dieser neuen Generation gehört auch Stefan Vetter, der als Pflegeassistent im Haus der Barmherzigkeit arbeitet. Nebenbei macht er die berufsbegleitende verkürzte Ausbildung zum diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger in Graz. "Dafür muss man mindestens zwei Jahre als Pflegeassistent gearbeitet haben", sagt Vetter, der nun einmal im Monat für vier Tage die Schulbank drückt. In die Pflege stieg er bereits nach der Schule ein, zunächst als Heimhelfer. Nach ein paar Jahren wollte er den nächsten Schritt gehen und landete im Haus der Barmherzigkeit. An seinem Beruf schätze er vor allem, dass es jeden Tag neue Herausforderungen gebe. Natürlich, die Pandemie sei eine spezielle Herausforderung. Ans Aussteigen habe Vetter dennoch nicht gedacht. "Der Zusammenhalt im Team ist, denke ich, noch stärker geworden. Das war schön."

Von der Pflegedirektorin wurde Vetter vor einigen Monaten angesprochen, ob er sich nicht zum diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger weiterbilden wolle. "Das Motto ist schon fordern und fördern", sagt Fida. Auch weil es sehr schwer sei, gutes Personal zu finden. Aktuell seien allein in diesem Krankenhaus 20 Stellen nicht besetzt.

Nehammer im Tatendrang

Auch Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) wurde Anfang Dezember mit dem Pflegemangel und Forderungen aus der Branche konfrontiert. In einer Radiosendung sprach er mit einem Intensivpfleger, der Verbesserungen forderte, damit mehr Menschen in den Beruf einsteigen. Konkret sprach der Mann von einer 35-Stunden-Woche und einer finanzierten Ausbildung. Nehammer antwortete: "Ich weiß, dass das der Gesundheitsminister sehr ernst nimmt. Wir haben hier etwas zu tun. Und es muss getan werden." (Lara Hagen, 26.1.2022)