Emmanuel Macron kämpft schon 2021 um seine Wiederwahl 2022.
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Emmanuel Macron ist der Meister der Gleichzeitigkeit. Der französische Präsident schafft es spielend, die EU zu organisieren, Deutschland zu berücksichtigen und sich zugleich selbst als Wiederwahlkandidat zu propagieren. Anlass zum großen Auftritt bietet Frankreichs sechsmonatiger EU-Vorsitz ab 1. Jänner – in Paris etwas hochtrabend "Présidence européenne" genannt. Macron übernimmt sie von Slowenien und gibt sie Ende Juni an Tschechien weiter.

Natürlich denkt Macron nicht daran, sich mit der Rolle des neutralen Koordinators von 27 nationalen Standpunkten zu begnügen – zumal seine Nation den rotierenden Vorsitz "nur alle dreizehn Jahre ausübt". Das nächste mal also 2035.

Am Donnerstagabend kündigte Macron offiziell an, er werde eine Reform des Schengen-Raums initiieren. Ziel sei es, die Außengrenzen besser zu schützen und ein politisches Organ zur Schengen-Koordination zu schaffen. Während des französischen Vorsitzes will Macron ferner die wirtschaftliche sicherheitspolitische Kooperation mit Nordafrika und dem Westbalkan verstärken. In Sachen Verteidigungspolitik kündigte Macron die Erarbeitung eines "strategischen Weißbuches" an. Seine Grundlinien würden im März bei einem EU-Gipfeltreffen verabschiedet. Auch neue Konfliktgebiete wie der Weltraum und die Cybersphäre würden einbezogen. Im Bereich der Klimapolitik schlägt Macron die Schaffung einer CO2-Steuer für Importe vor.

Gutes Timing

Macron hebt bewusst den sozialen Aspekt hervor. Dazu passt das Timing: Die deutsche Ampelkoalition steht Ideen wie einem europäischen Mindestlohn wohlwollend gegenüber. Macron hat den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP genau gelesen. Schon vor einigen Tagen hatte er erklärt, er teile die Ampel-Vorschläge für ein Initiativrecht des EU-Parlaments sowie die Bildung transnationaler Listen bei den Europawahlen.

Jetzt nimmt er sie kurz vor dem Pariser Besuch des neuen deutschen Kanzlers am Freitag wieder auf. Auch das ist Macron’sches Timing: Er spricht sein Vorsitz-Programm nicht mit Olaf Scholz ab. Dafür geht er von sich aus darauf ein, soweit ihm das gelegen kommt. Damit will Macron auch innenpolitisch punkten und im heimischen Präsidentschaftswahlkampf als Lenker von internationalem Zuschnitt dastehen – und seinen Wählern eine Botschaft zukommen lassen: "Während sich meine Widersacher im endlosen Wortstreit verlieren, regiere ich." Und zwar nicht nur Frankreich, sondern ganz Europa.

Die Europäer wiederum werden ein halbes Jahr damit leben müssen, dass ihr neuer Interimsvorsitzender Europapolitik mit Blick auf den eigenen Wahlkampf betreiben wird. Das kann in Sachen Entschlossenheit auch sein Gutes haben. Aber es birgt auch eine gewisse Ambivalenz.

Macrons Spagat

So versucht Macron seit einiger Zeit zweierlei: Den Linkswählern präsentiert er sich gern als sozialer Beschützer vor der "ultraliberalen" EU. Zugleich versucht er auch rechten Präsidentschaftskandidaten wie Marine Le Pen, Éric Zemmour oder Valérie Pécresse den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ob dieser Spagat gelingt, wird das erste Halbjahr 2022 zeigen. (Stefan Brändle aus Paris, 9.12.2021)