Zwei Monate nach dem letzten Versuch erklärte sich wieder ein Regierungschef im Parlament: Karl Nehammer versuchte mit einer persönlichen Note zu punkten.

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Auch der Neue kann – oder darf – es nicht lassen. In der langen Liste jener, denen der frisch angelobte Regierungschef dankt, kommt der Altkanzler gleich nach dem Bundespräsidenten. Große Verdienste seien Sebastian Kurz anzurechnen, eröffnet Karl Nehammer dem Nationalrat: bei der Bekämpfung der Pandemie, der Sicherung der Pensionen und überhaupt.

Vor zwei Monaten haben derartige Sätze noch aufgeregt. Damals hatte sich Alexander Schallenberg am selben Ort als neuer Bundeskanzler vorgestellt – und kein Hehl daraus gemacht, wie viel ihn mit seinem Vorgänger verbinde. Er werde mit Sebastian Kurz nicht nur eng kooperieren, sondern auch dessen Kurs fortsetzen, versicherte der frisch angelobte Regierungschef, um entgegen seiner diplomatischen Natur reichlich Anlass für Empörung zu bieten: Schallenberg maßregelte die Opposition für Misstrauensanträge und verfrachtete einen Packen Ermittlungsakten, die ihm die Neos auf den Tisch gelegt hatten, mit säuerlicher Miene auf den Boden.

Den Fallen ausgewichen

In derartige Fallen tappte der innenpolitisch routiniertere Nehammer bei seiner Regierungserklärung am Donnerstag nicht. Viel Wind nimmt der neue Primus inter Pares der türkis-(?-)grünen Koalition der Opposition aus den Segeln, indem er die Sozialdemokraten, die Neos und sogar die FPÖ in die ausgiebigen Danksagungen – in diesem Fall für "vertrauensvolle Gespräche" – einschließt. Kein Zwischenruf unterbricht seine Rede, höchstens einmal ein Raunen.

Nehammer spricht weniger geschliffen als Kurz, aber freier als Schallenberg. Souveräner, lockerer und lebensnäher wirkt der Auftritt etwa, als es um das Leid der jüngsten Bürger in der Pandemie geht. Er wisse um die Zumutung, wenn Schülerinnen und Schüler etwa den ganzen Tag mit Maske in den Klassen sitzen müssen, sagt Nehammer und fügt – einmal mehr – "ein großes Danke" an.

Appell an Impfgegner

Persönlich wird der ÖVP-Chef auch, als er sich an jene Menschen wendet, die sich immer noch nicht haben impfen lassen. Wer Politikern misstraue, möge auch den mitunter "lebensbedrohlichen" Botschaften auf Telegram oder Facebook misstrauen, appelliert Nehammer: "Bitte, suchen Sie das Gespräch mit Ärzten Ihres Vertrauens."

Dass der Kanzler seinen Auftrag mit der Bewältigung der Pandemie nicht für erschöpft hält, soll eine fünfteilige Prioritätenliste unterstreichen. Die Verwirklichung der "ökosozialen" Steuerreform und die Bewältigung der Lockdown-Folgen an den Schulen finden sich dort ebenso wie die lange versprochene Pflegereform, die Aufpäppelung von Arbeitsmarkt und Tourismus sowie Akzente in der Europapolitik.

Apropos internationale Bühne: Einen Exkurs ist Nehammer die Beziehungspflege zu Israel und dem Judentum wert. Österreich versöhne sich mit der Geschichte, "wie es schöner nicht sein kann", sagt er – indem sich jüdisches Leben hierzulande "frei, ungefährdet und freudig" weiterentwickeln könne.

Kogler dankt der ÖVP

Der Koalitionspartner kommt ohne den Namen Kurz aus. Auch Vizekanzler Werner Kogler spricht Dank aus, adressiert diesen jedoch pauschal an die ÖVP. Die Ursachen der türkisen Krise einmal ausgeklammert, gebühre der größeren Regierungspartei für die "Bereinigung" der eigenen Krise Anerkennung. "In keiner Minute", versichert Kogler, "war das Staatsganze gefährdet und ungelenkt." Nehammer freut die Rede sichtlich. Immer wieder zeichnet sich ein entspanntes Lächeln unter der obligaten Maske ab.

Nach außen hin präsentiert sich Kogler angriffiger. "Was geht da vor, wenn Staatsverweigerer und Neonazis in den Städten herumspazieren?", spricht er die Demos gegen die Corona-Maßnahmen an. Die prompt in den FPÖ-Sitzreihen aufwallende Empörung quittiert er mit diebischer Freude: "Bitte, fürs Protokoll: Die Freiheitliche Partei fühlt sich offenbar angesprochen."

SPÖ sieht Zaudern und Zögern

Die Wortführerin der größten Oppositionspartei lenkt den Fokus wieder auf die Regierung. Sie frage sich, wofür sich Nehammer in seiner Rede so oft bedankt habe, sagt Pamela Rendi-Wagner. "Für den vierten Lockdown?" Als Adressaten seien die Politikerkollegen die falschen gewesen. Dank gebühre vielmehr dem Gesundheitspersonal, das Unglaubliches leiste.

Das "mutlose Zaudern und Zögern" der Regierung habe hingegen schnurstracks in die "Corona-Explosion" geführt, kritisiert die SPÖ-Chefin, der nunmehr verhängte "Fleckerlteppich ohne Logik" bei den Öffnungen sei nur ein weiterer "Beweis für die Selbstaufgabe" der Bundesregierung. "Zuschauen ist nicht Regieren", sagt Rendi-Wagner und ruft nach Neuwahlen.

Darauf ist die ÖVP vorbereitet. Ihr eigener Parteifreund, Wiens Bürgermeister Michael Ludwig, halte Neuwahlen für unnötig, kontert Klubchef August Wöginger, und die Kritik am "Fleckerlteppich" solle sie an die drei sozialdemokratischen Landeshauptleute richten, die unterschiedliche Regeln beschlossen haben: "Die Verordnung der Bundesregierung ist hingegen einheitlich."

Ausflug ins politische Laufhaus

Für rhetorische Eskalation sorgt verlässlich die FPÖ. Seinen Generalvorwurf an die Regierung – "Man kann Ihnen kein Wort mehr glauben" – spitzt Klubchef Herbert Kickl derart zu, dass er sich von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) gleich vier Ordnungsrufe einfängt. Geahndet werden unter anderem die Bezeichnung "schwarz-grüner Volkssturm", eine Anspielung auf das letzte Aufgebot des NS-Regimes sowie der Satz vom "Kommen und Gehen in diesem politischen Laufhaus namens Bundesregierung".

Laufhäuser seien bitte schön anerkannte Wirtschaftsbetriebe, rückt der FPÖ-Abgeordnete Erwin Angerer zur Verteidigung der Bordelle und seines Parteichefs aus: Nur bei Kickl werde jedes Wort auf die Goldwaage gelegt.

Beate Meinl-Reisinger knüpft da dankbar an. Bei allem von der Regierung verursachten Chaos und Vertrauensverlust – der blaue Einwand sei offenbar als Appell zu verstehen, Kickl nicht ernst zu nehmen, sagt die Neos-Chefin: "Dem folgen wir sehr gerne." (Gerald John, 9.12.2021)