Autor Peter Stamm.

Foto: Claudia Below

Was im wirklichen Leben nicht möglich wurde, hat der Ich-Erzähler jahrzehntelang in seiner Fantasie zu erleben versucht. Das Erträumte wurde indes zum Phantomschmerz, und das Leben blieb versäumt: Fast vierzig Jahre lang beschwert eine unerfüllte Liebe Gedächtnis und Herz.

Was Ersteres anlangt, hat der Erzähler sich sogar einen eigenen Erinnerungsraum eingerichtet, ein Zeitungsarchiv, das ausgemustert wurde, als auch er seinen Job bei der Zeitung verlor. Er war im Verlag als Recherchemitarbeiter tätig, der regelmäßig Material zu bestimmten Personen, Ereignissen, Themen sammelte und ablegte. Eine einseitige Tätigkeit: "Meine Aufgabe ist das Sammeln und Ordnen. Das Interpretieren der Welt sollen andere übernehmen."

Im Untergrund des Bewusstseins

Wenn es um die eigene Geschichte geht, bleibt es allerdings nicht beim bloßen Dokumentieren. Bei seiner Kündigung nimmt er sich das Archiv mit nach Hause, es befindet sich fortan im Keller, gleichsam im Untergrund seines Bewusstseins, und es ist insofern ein "Archiv der Gefühle", als eine der Mappen Karriere und Privatleben der Sängerin Fabienne dokumentiert.

Die heißt mit richtigem Namen Franziska, war einst Schulkollegin des Erzählers, dessen erste und ewige Liebe. Nur dass diese Liebe nie erwidert wurde. Vier Jahrzehnte lang kommt der Erzähler von ihr nicht los. Zwar verdankt er Franziska den ersten Kuss, aber gleichzeitig das Bekenntnis, dass sie ihn nicht liebt.

Da waren sie Teenager, nun sind beide Mittfünfziger. Während sie ihren Weg gemacht hat, ist sein Leben ereignislos geblieben. Irgendwann ist er in das Haus seiner verstorbenen Eltern eingezogen, weil er nicht wollte, "dass sich etwas verändert", alles sollte eine "ewige Gegenwart" bleiben, "in der nichts verschwindet, nur alles ganz allmählich verblasst, verstaubt, sich auflöst".

"Unsere schönsten Erinnerungen"

Gleichzeitig hat er sich immer ein anderes Leben ausgemalt, aber dazu hat ihm die Kraft gefehlt. Stattdessen hat er sich eine Beziehung fantasiert und aus ihm und Franziska "unsere schönsten Erinnerungen" konstruiert. Die sind das eine, die Wirklichkeit das andere, und der Roman braucht ja auch eine Handlung. Also nimmt der Erzähler nach all den Jahren endlich einen Anlauf und schreibt eine Mail: "Liebe Franziska, ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst. Wir sind vor langer Zeit zusammen zur Schule gegangen und waren befreundet, vielleicht mehr als das."

Was so zögerlich beginnt, nimmt ein wenig spät romanhafte Dimension an. Am Ende geht’s ja doch in Richtung Liebe, auch wenn sich das so genau auch nicht definieren lässt – das, was sich Vollzug nennt, könnte auch ein weiteres Fantasieprodukt des allzu gern träumenden Erzählers sein: "Ich stelle mir vor, wie unser Leben hätte aussehen können", lautet die eine Möglichkeit, die andere: die leise Ahnung, "dass da in der Ferne noch etwas kommt".

Happy End oder nur die Vorstellung davon? Man mag beeindruckt sein von einer Literatur, die wortreich und gekonnt erzählt ohne große Gesten auskommt, weil sie selbst die Geste ist. Ob das relevant genug ist, muss der Leser entscheiden, der sich auch ein handgreiflicheres Ende hätte vorstellen können. Aber darauf ist der Roman vermutlich nicht ausgelegt. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 11.12.2021)