Vorm Soproner Rathaus steht, in einem der fünf Arkadenbögen des Portikus, ein kleiner, bronzener Mann. Eine Melone hat er auf dem Kopf. Einen altmodischen Gehrock trägt er. Darunter eine feine Weste, geknöpft übers Wohlstandsbäuchlein. Die Finger der linken Hand liegen in seiner rechten. Er ruht auf dem linken Bein, das Spielbein ein wenig vorgerückt.

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Michael Sopronyi-Thurners Statue in Sopron, dessen Bürgermeister er von 1918 bis 1941 war.
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So steht einer, der sich gerade anschickt, eine Ansprache zu halten. Eine, die ihm dann womöglich ins Weitschweifige gerät. Ältere Herren sind so. Aber ja, zu erzählen hätte er tatsächlich genug, der Dr. Michael Sopronyi-Thurner, wie die Ödenburger ihn bis heute nennen. Dr. Sopronyi-Thurner Mihály, so sagen die Soproner zu ihm.

In Fleisch und Blut war der kleine, bronzene Mann der berühmteste, prägendste Bürgermeister der Stadt. 1918 hat er sein Amt angetreten, da lag der Krieg in den letzten Zügen. 1941 legte er es nieder, gerade als der zweite Krieg anfing, in seine finale Vernichtungsphase zu eskalieren. Dazwischen lagen der Zerfall des Donaureiches, die Räteherrschaft, die Konterrevolution, die königlichen Restaurationsversuche, der bewaffnete Kampf für und gegen die Österreichischwerdung des Burgenlandes. Die Zeitläufte, in denen Michael Thurner Bürgermeister von Sopron war, turbulent zu nennen wäre ein lächerlicher Euphemismus.

Friedensvertrag

Unter all den Herausforderungen, die sich dem Michael Thurner gestellt haben in diesen 23 Jahren seiner Amtszeit, waren die im Jahr 1921 wohl am bedeutendsten. Ihretwegen haben ihn die Soproner in Bronze gießen lassen und, 1996 war das, vors Rathaus gestellt. Hundert Jahre zuvor ist es errichtet worden anlässlich des ungarischen Millenniums.

896 hatte, so erzählt man, Fürst Árpád mit seinem Volk die Karpaten überschritten, um das vor ihm liegende, schöne, fruchtbare Land in Besitz zu nehmen. Seit damals ist Sopron – das Scarbantia der alten Römer – eine ungarische Stadt. In einem Referendum – am 14. Dezember 1921 in der Stadt, am 16. in acht Umlandgemeinden – entschied sie sich dafür, es weiterhin zu bleiben. 65 Prozent stimmten für Ungarn, 35 für Österreich. In der Stadt war es mit 73:27 noch deutlicher.

Ödenburg war in den Friedensverträgen mit Österreich und Ungarn zwar als Hauptstadt des Burgenlandes vorgesehen gewesen. Doch die Sezession des Burgenlandes vom ungarischen Mutterland hatte, wie spätestens seit den Kampfhandlungen im Spätsommer 1921 deutlich geworden war, bei der Hauptstadtfrage das Potenzial zu einem heißen Krieg. Den aber wollte niemand.

Die beiden Kontrahenten – denen die Ereignisse zu entgleiten drohten – nahmen daher das Vermittlungsangebot Italiens an. Am 13. Oktober unterzeichneten Österreichs Bundeskanzler Johann Schober, der ungarische Ministerpräsident István Bethlen und der italienische Außenminister Pietro Tomasi della Torretta in Venedig einen Vertrag, der die Übergabe des Burgenlandes an Österreich festschrieb. Im Gegenzug aber sollte über die Zugehörigkeit von Ödenburg/Sopron eine Volksabstimmung abgehalten werden.

Auf Ungarisch und Deutsch

Agitation, so sahen es diese Venediger Protokolle ausdrücklich vor, habe auf beiden Seiten zu unterbleiben. Das Gegenteil geschah, no na. Und no na hatte Ungarn den Heimvorteil. Nicht zuletzt deshalb, weil Soprons "polgármester" sich mit Leidenschaft ins Zeug legte. "Thurner", so beschrieb es ein Mitstreiter, "spielte eine herausragende Rolle bei der Gewinnung der öffentlichen Meinung. Und dann auch bei der praktischen Durchführung des Referendums."

Unermüdlich sei er gewesen beim Agitieren, "und jedes Mal elektrisierte er mit seinen Reden". Die hielt er auf Ungarisch und auf Deutsch. Und wenn er die Kroaten elektrisieren wollte, überließ er seinem Parteifreund Stefan Pinezich das Wort. Falls er jemanden beim Quertreiben ertappte, las er ihm die Leviten. Den österreichisch gesinnten Vorstand der lutherischen Gemeinde nahm er gar ins Gebet.

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Die Anschlussbefürworter mobilisierten im Ödenburger Heimatdienst ebenfalls die Propagandabemühung nach dem Vorbild und mithilfe von Veteranen der Kärntner Volksabstimmung im Jahr zuvor. Sie warnten eindringlich vor den Schalmeientönen der ungarischen Seite. "Trauet nicht den schmeichelnden Liedern", hieß es auf einem Plakat. Solche wie den Bürgermeister nannte man, verächtlich, Madjaronen: Un garnbüttel, Verräter am eigenen Volkstum, nationale Konvertiten, die magyarischer sein wollten als die Magyaren selbst.

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Michael Thurner kam am 12. Dezember 1878 in Márcfalva, im heute burgenländischen Dorf Marz, auf eine geordnete und zukunftsgewisse Welt. Der Vater war Bezirksnotär, ein wohlbestallter Verwaltungsbeamter, Michael das jüngste von zehn Kindern. Marz, drei Bahnstationen von Sopron entfernt, ist seit jeher deutschsprachig gewesen.

Zum Madjaronen wurde Michael dort, wo und wie es vorgesehen war. "Bis Weihnachten", so erinnerte er sich später an seinen Schuleintritt, "ist der kleine Deutsche ein Magyare geworden, ist das bis heute geblieben und wird es bis zu seinem Todestag bleiben." Die Gymnasiumszeit verbrachte er in Sopron und Győr. Er studierte Jus und Wirtschaft in Kecskemét, in Budapest und im transsilvanischen Kolozsvár, dem sächsischen Klausenburg, dem rumänischen Cluj-Napoca.

Die ungarische Sprache war die Lingua franca in allen Ecken des großen Reiches. Am Markt, im Wirtshaus, in den Kirchen mochte man ruhig die jeweilige Muttersprache reden. In den Ämtern des großen Vielvölkerreiches galt dann aber die des Vaterlandes.

Ein "heiliger" Ort

1905 trat Thurner seinen Dienst in der Finanzdirektion von Székesfehérvár an, wechselte drei Jahre später in die nach Sopron. 1912 wurde er deren Chef und machte diesen Job offensichtlich so gut, dass er später wegen Unabkömmlichkeit aus dem Kriegsdienst zurückgerufen wurde.

Auch die Belange der Stadt – eine der großen kakanischen Garnisonsstädte – waren kriegswichtig. Als er am 1. August 1918, fast auf den Tag genau vier Jahre nach Kriegsbeginn, zum Bürgermeister gekürt wurde, war man allgemein der Meinung, eine gute Wahl getroffen zu haben.

Thurner war selbstbewusst genug, dieser Ansicht nicht zu widersprechen. Das Rathaus war ihm ein "heiliger Ort". Da werde er nicht zulassen, "dass sektiererische Voreingenommenheit und politische Parteinahme bei meinen Entscheidungen mitreden". Er meinte nicht bloß die religiösen Sektierer. Sondern vor allem die quasireligiösen. Die Politruks und, die besonders, Separatisten.

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Aus heutiger Sicht war die Ödenburger Volksabstimmung ohne Zweifel grob manipuliert. Aber aus heutiger Sicht – darauf weist Burgenlands emeritierter Landeshistoriker Gerald Schlag immer gerne hin – geschah die Manipulation schon in Venedig. Abseits des offiziellen Venediger Protokolls hätten sich Österreich und Ungarn darauf geeinigt, die Burgenlandfrage mit einem Kompromiss zu den Akten zu legen.

General Carlo Antonio Ferrario, das italienische Mitglied der in Sopron stationierten interalliierten Generalskommission, nahm als Beobachter an den Venediger Gesprächen teil. Er meinte, dass die Venediger Abmachung einen Verzicht Österreichs auf die Stadt bedeutete, "der nur maskiert werden sollte".

Das ändert allerdings nichts am Befund, dass ein Gutteil der deutschsprachigen Soproner – 1920 waren das immerhin 48 Prozent – auf jeden Fall im Sinne des Bürgermeisters gestimmt hätten. Ungarn erschien ihnen stabiler. Vielversprechender. Lukrativer.

Silberne Knöpfe

Am Neujahrstag 1922 wurde Sopron offiziell wieder an Ungarn übergeben, das den Bürgermeister längst zum Helden stilisiert hatte. Vorm Rathaus hielt er dann – so wohl posierend, wie er heute noch dasteht – eine seiner gerühmten Reden.

"Vor meinen Augen", so überlieferte es das Hauptstadtblatt Pester Llyod, "tauchen meine beiden Großväter auf, die beide deutsche Bauern waren und die mir als Knaben mit Stolz erzählten von der Zeit, als sie mit großen silbernen Knöpfen an der Weste nach Mariazell einzogen und, als sie von dem dortigen Volke befragt wurden, woher sie kommen, stolz antworteten: Wir kommen aus Ungarn, wir sind Ungarn! Diese silbernen Knöpfe sind das Symbol des Wohlstandes, den unser Volk hier genießen konnte und genießen wird als Frucht der gemeinsamen Arbeit mit den magyarischen Brüdern."

Allertreueste Stadt

Prophet war der getreue Dr. Thurner also kein so guter. In seiner Amtszeit tat Michael Thurner jedenfalls alles, um Industriebetriebe und vor allem Bildungseinrichtungen in die einsam gewordene, von seinem Hinterland verlassene Stadt zu bringen. Noch im Jahr 1922 verlieh Budapest Thurners Stadt den Ehrennamen "civitas fidelissima". Das importierte der zwar getreue, aber doch stets pragmatische Thurner umgehend in die Tourismuswerbung.

Jeder patriotisch gesinnte Ungar – jeder Ungar also – habe es als Pflicht zu sehen, wenigstens einmal der allertreuesten Stadt einen Besuch abzustatten. Die lässt sich am eindrucksvollsten durch den imposanten Feuerturm gleich neben dem Rathaus betreten. Durch das hûség kapu, das Treuetor. 1931, zur Zehn-Jahres-Feier, nahm der treue Bürgermeister dann den Namen der Stadt an. Und heißt eben seither Sopronyi-Thurner.

1941 zog er sich – nach Unstimmigkeiten in seiner Partei, der christlichen Soproner Einheitspartei – in die Direktion der von ihm in die Stadt geholten Seidenfabrik zurück. Dies wollten ihm die neuen Herren nach dem Krieg zum Vorwurf machen. Er hätte die Fabrik nach Deutschland absiedeln wollen. Ein Volksgericht wurde abgehalten.

Mangels Belastungszeugen wurde er freigesprochen. Die Ehrenbürgerschaft, die ihm die Stadt bei seinem Rückzug verliehen hatte, verlor er dennoch. Als er im Stadtarchiv seine Unterlagen ordnen wollte, wurde er des Rathauses verwiesen. Grad, dass er nicht auf die Liste für die große Deutschenvertreibung des Jahres 1946 gesetzt wurde. Am 7. April 1952 starb er, 73-jährig, an einem Herzinfarkt.

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Das Burgenland konnte sich lange nicht mit dem Verlust von Ödenburg abfinden. Im April 1925 wurde Eisenstadt darum nicht "Hauptstadt". Sondern bloß "Sitz der Landesregierung". Erst 1965 wurde der Status "Landeshauptstadt" ins Eisenstädter Stadtrecht geschrieben. Es brauchte aber bis 1981, dass dies seinen Niederschlag auch in der burgenländischen Landesverfassung fand. Und bis heute gilt für den Marzer Buben, dessen silberbeknöpfte Bauerngroßväter aus Sérc, dem heutigen Schützen am Gebirge, stammten, die Damnatio Memoriae: kein Schwein möge sich erinnern an den Dr. Sopronyi.

Auch im sowjet-erstarrten Sopron vergaß man nach und nach auf ihn. Erst der von 1994 bis 2002 amtierende Bürgermeister Szabolcs Gimesi – der in verblüffend vielerlei Hinsicht dem Michael Thurner glich – ließ den kleinen, bronzenen Mann vors Rathaus stellen. So manchem Flanierer, so mancher Flaniererin habe er schon aus der Stadtgeschichte erzählt.

Hört man, hört mans. (Wolfgang Weisgram, ALBUM, 11.12.2021)