Neukaledonien – wo liegt das schon wieder?, fragen sich derzeit viele Franzosen, wenn sie hören, dass in einem entfernten Winkel ihrer Nation eine Volksabstimmung stattfindet. Richtige Antwort: im Pazifik, östlich von Australien, 18.000 Kilometer vom Mutterland entfernt. "Le Caillou", der Kieselstein, wie der langgestreckte Archipel oft genannt wird, besteht aus blauen Lagunen voller Korallen, Sandstränden und Palmenhainen. Die 270.000 Einwohner, je zur Hälfte kanakische Ureinwohner und Ex-Kolonialisten aus Frankreich, ergänzt durch eine zunehmende Zahl von Asiaten, leben großteils vom Abbau von Nickelerz, einem wichtigen Bestandteil von Batterien. Man isst Baguettebrot und importiert Camembert von der anderen Seite der Erdkugel.

Trotzdem würden die Kanak gerne weg von Frankreich. Wie ihr legendärer, 1989 ermordeter Anführer Jean-Marie Tjibaou einmal sagte: "Solange es einen Kanak auf dieser Erde gibt, wird er die Unabhängigkeit verlangen."

Drittes Referendum

Ein Jahr zuvor hatte schon eine Geiselnahme durch Kanak mit mehreren Toten geendet. Seither versuchen alle Beteiligten, auf der ehemaligen Sträflingsinsel so friedlich wie möglich zusammenzuleben. Ein gestaffelter Autonomieprozess sollte in drei Urnengängen über die Unabhängigkeit münden. Der erste fand 2018 statt, und 43,3 Prozent – fast nur Kanak – stimmen für die Loslösung vom Mutterland. 2020 waren es 46,7 Prozent. Jetzt, am kommenden Sonntag, ist die dritte Abstimmung angesetzt. Die 50-Prozent-Schwelle rückt für die Kanak in Griffweite – zum einen wegen der demografischen Entwicklung, aber auch wegen des politischen Reifungsprozesses der kanakischen Befreiungsfront (FLNKS).

Boykott

Doch jetzt kommt alles ganz anders. Aller Voraussicht nach wird die Unabhängigkeit abgelehnt. Die FNLKS boykottiert die Abstimmung im letzten Moment, nachdem sie vergeblich und mit Nachdruck eine Verschiebung verlangt hatte. Der Grund entzieht sich, wie so vieles in Neukaledonien, westlichem Denken.

Weil die Kanaken das Referendum boykottieren, wird der Wahlkampf nur von den Unabhängigkeitsgegnern betrieben.
Foto: AFP/Rouby

Das Malheur begann mit dem Coronavirus. Es forderte 278 Opfer, die meisten unter den oft ungeimpften, in Armut lebenden Kanak. Viele Verkehrswege inklusive Flughäfen wurden geschlossen.

Das hält die Ureinwohner unter anderem davon ab, der Beerdigung von Familienangehörigen beizuwohnen. Ein Trauma für die Kanak, die sehr intensiv und sehr vereint trauern. Yvette Yeiwene etwa, eine ältere Frau aus dem Nordteil der Insel, verlor ihre Schwägerin. "Wenn bei uns jemand stirbt, bleibt man eine Woche zusammen, etwa 150 bis 200 Personen. Die Trauer dauert ein Jahr. Und ein Jahr später trifft man sich wieder", klärte die rundliche Frau im blumigen Gewand eine aus Paris eingeflogene Journalistin auf. "Verstehen Sie? Abstimmen zu gehen, obwohl die Trauer für meine Schwägerin nicht möglich war, das geht nicht."

Kurz vor der Ziellinie

Wie Yvette Yeiwene denken viele Kanak. Die FLNKS ließ verlauten: "Die Abstimmung würde die Gefühle, Befindlichkeit und Würde eines ganzen Volkes verletzen." Und das zählt in Neukaledonien. So hart es auch ist: Nach drei Jahrzehnten stand der geordnete und vor allem friedliche Ablösungsprozess endlich vor der Ziellinie. Und jetzt weiß niemand weiter, falls die Unabhängigkeit wie erwartet keine Mehrheit erhalten dürfte.

Wahlbeobachter eingeflogen

Der französische Präsident Emmanuel Macron lässt den Dingen ihren Lauf. Er gibt sich als ehrlicher und neutraler Makler der Abstimmung. In Absprache mit der Uno lässt er sogar 260 Wahlbeobachter einfliegen. Frankreich will nicht, dass sein schöner Inselarchipel länger auf der schwarzen Uno-Liste der "noch zu entkolonisierenden Länder" bleibt. Deshalb verspricht Macron, dass die sozialen Anliegen der Kanak auf jeden Fall erhört würden. Schon heute subventioniert Frankreich sein "Konfetti" – wie seine verstreuten Überseebesitzungen genannt werden – mit jährlich 1,5 Milliarden Euro. Das ist vielleicht kein offizielles, aber ein schlagendes Argument gegen die Unabhängigkeit.

Denn in Wahrheit setzt Paris alles daran, dass Nouvelle-Calédonie nicht "abfällt". Die Südseeinsel birgt ein Viertel der weltweiten Nickelerzvorkommen; der US-Unternehmer Elon Musk hat im vergangenen März in ein großes Bergwerk investiert, um über Rohstoffe für seine Tesla-Batterien zu verfügen.

Bollwerk gegen China

Noch wichtiger ist die strategische Lage des "Kieselsteins" als Bollwerk gegen Chinas Vordringen in den Südpazifik und nach Australien. Peking umgarnt die Kanak, nachdem es schon andere Inselstaaten mit Wirtschaftshilfe und Krediten an sich gebunden hatte.

Macron will die Unabhängigkeit schon deshalb verhindern. Und den Australiern vormachen, dass Frankreich im Südpazifik noch ein paar Trümpfe hat, auch wenn es im September von der anglophonen Aukus-Koalition und dem U-Boot-Deal ausgeschlossen wurde. Einer dieser Trümpfe ist der Militärstützpunkt Nouméa, der Hauptstadt Neukaledoniens, mit nahezu 2.000 Soldaten. Sie müssten womöglich abziehen, wenn die Insel ihre eigene, blau-rot-grüne Flagge mit dem gelben Kreis hissen würde.

Zum Glück für Frankreich werden viele Ureinwohner wie Yvette Yeiwene gar nicht erst an die Urne gehen. Froh darüber ist niemand. Denn die Zukunft der Insel ist so offen wie nie. (Stefan Brändle aus Paris, 11.12.2021)