Politologe Felix Butzlaff schreibt in seinem Gastkommentar über die Folgen der gesellschaftlichen Demokratisierung. Gemeinwohl könne auch Verbote und Begrenzungen bedeuten.

Isolde Charim und Andreas Novy haben an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen von einem radikalisierten Verständnis neoliberaler Freiheit getragen sind ("Die Querdenker als Symptom" sowie "Corona-Proteste: Demokratie oder Freiheit?"). Die "Illusion, Freiheit sei einzig die Abwesenheit von (…) allen voran staatlichem Zwang", so Novy, habe dazu geführt, dass Bürgerinnen und Bürger Einschränkungen, wie etwa Lockdowns oder eine Impfpflicht, nicht mehr akzeptierten. Er weist zu Recht darauf hin, dass eine Demokratie, solcherart als Befreiung von staatlicher Bevormundung verstanden, an Legitimation und Handlungsfähigkeit einbüßt. Denn sie kann kaum mehr das Vertrauen herstellen, ein gemeinsames Wohl seiner Bürgerinnen und Bürger zu mehren, wenn dieses gegen die Interessen Einzelner erlangt wird.

"Mein Körper gehört mir!", steht auf dem Plakat. Die Impfgegner haben den Slogan der Feministinnen aus den 1970ern übernommen.
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Ich möchte hier anfügen, dass im Zuge des gesellschaftlichen Wandels der letzten Jahrzehnte nicht nur Bürgerinnen und Bürger, sondern auch demokratische Institutionen einen individualisierten Freiheitsbegriff verinnerlicht haben: Gerade politische Parteien, eigentlich zuständig für die Bildung, Zusammenfassung und Bündelung unterschiedlicher Interessen, tun sich immer schwerer damit, ein Allgemeinwohl zu formulieren, welches mehr ist als ein Aufsummieren von Einzelinteressen.

Parteien sind zwar über die letzten drei Jahrzehnte demokratischer und offener geworden, organisieren Mitgliederdebatten, Bürgerforen, Partizipationsprozesse. Keine Partei kann sich mehr erlauben, das Bild einer verschlossenen Organisation verrauchter Hinterzimmer zu erwecken, sondern sie muss sich transparent und bürgernah gerieren. Dies ist eine erfreuliche Folge der gesellschaftlichen Demokratisierung. Damit verbunden ist allerdings auch, in unterschiedlichem Maße, eine Individualisierung von Mitgliedschaft und Demokratie. Was nun zählt, ist, dass möglichst jede/r Einzelne möglichst ungefiltert und direkt sich einbringen, mitsprechen, mitreden kann.

Politisches Sondieren

Demokratie ist zu einem Abbild der unterschiedlichen Interessen geworden, nicht ihrer Zusammenführung. Parteien formulieren nicht mehr Erzählungen dessen, was sie als Allgemeinwohl anstreben (und welches ja je nach Partei ganz unterschiedlich aussehen sollte) und werben dann um Unterstützung dafür, sondern sie sondieren, was Bürgerinnen und Bürger fordern, und summieren diese Einzelpositionen dann auf. Die Definition des Allgemeinwohls hat sich individualisiert. Eine Diskussion darüber, ob Gemeinnutz nicht eben auch Verbote und Begrenzungen erfordert, wird dadurch enorm erschwert.

Dies liegt zum einen an einem Neoliberalismus, der mit seinem Freiheitsverständnis mittlerweile fast alle gesellschaftlichen Winkel ausgefüllt hat. Zum anderen aber stehen Legitimationsquellen, mit denen historisch ein gesellschaftliches Allgemeinwohl begründet worden ist, mittlerweile nicht mehr oder zumindest nur noch angezweifelt zur Verfügung. Verbote und Einschränkungen aber, etwa in der Frage, ob ein Lockdown notwendig sei, um Krankenhäuser und medizinisches Personal nicht zu überlasten, bedürfen einer geteilten Grundlage. Nur ein Übereinkommen, warum und mit welchem Ziel Begrenzungen eingeführt werden, stiftet Legitimität und Akzeptanz. Auf diese Quellen sind auch Parteien zwingend angewiesen. Und hier wird es kompliziert.

Gemeinsame Basis fehlt

In der Vergangenheit wurden diese Legitimationsquellen aus Religion, Ideologie, Wissenschaft oder einem demokratischen Verwaltungsprozess gespeist. Das Christentum aber als gemeinsames Begründungsfundament politischer Programmatik ist mittlerweile selbst von der ÖVP aufgegeben worden, ebenso wie eine sozialistische Ideologie von fast allen sozialdemokratischen Parteien Europas, ganz zu schweigen von den Bürgerinnen und Bürgern, nicht mehr als ernsthafte Leitlinie angesehen wird. Ideologie und Religion als politische Letztbegründung werden von den meisten Menschen heute als verbohrt und engstirnig empfunden.

Auch mit Wissenschaft und wissenschaftlichen Ergebnissen ein Allgemeinwohl politisch zu definieren und zu begründen ist mit der Demokratisierung des Wissens erheblich erschwert. Jede wissenschaftliche Position kann (und wird) heutzutage, das zeigen die Debatten um Corona und Klimawandel eindrucksvoll, angezweifelt oder mit einer Gegenstudie infrage gestellt. Und auch der demokratisch-administrative Prozess als ein Garant, am Ende ein verlässliches und legitimes Allgemeinwohl hervorzubringen, wird von immer mehr Menschen nicht mehr selbstverständlich akzeptiert. Die Plakate von den "Systemparteien" oder der "Corona-Diktatur" machen dies deutlich. Am Ende bleiben derzeit das Individuum und die Nation als einzige Legitimationsquellen übrig.

Wenige Grenzziehungen

In der Folge tun sich die meisten politischen Parteien jenseits der nationalistischen Rechten enorm schwer damit, Vorschläge für ein verbindliches Allgemeinwohlverständnis zu machen, welches zwangsläufig von Grenzziehungen zu dessen Durchsetzung begleitet ist. Dies ist, wie Novy und Charim unterstreichen, eine Folge der Neoliberalisierung und der Individualisierung von Freiheit. Es ist aber auch eine Folge von Emanzipation, Demokratisierung und der Öffnung vieler Gesellschaftsbereiche, welche dazu führen, dass ein verbindliches Allgemeinwohl immer weniger akzeptiert wird. Außerhalb des Rechtspopulismus werden notwendige Grenzziehungen kaum mehr ernsthaft vorgeschlagen. Dass es so schwerfällt, in der Pandemie und Klimakrise verbindliche Regeln zu schaffen, liegt eben auch an der Individualisierung des Allgemeinwohls in den und durch die politischen Parteien.

Damit wir "mutig, transparent und wissenschaftsbasiert" (Novy) demokratisch handeln können, müssen wir uns über die Maßstäbe verständigen. Und vor allem die politischen Parteien und demokratischen Institutionen dazu drängen, wieder zu Foren dieser Diskussion zu werden. (Felix Butzlaff, 11.12.2021)