In asiatischer Kräutermedizin finden sich oft kraftvolle Inhaltsstoffe. Aber der wissenschaftliche Nachweis der Wirkung fehlt in den meisten Fällen.

Foto: Imago / Robert Harding

Schulmedizin gegen Naturheilkunde – so scheint das Match, befeuert durch die Corona-Pandemie und die Impfdebatte, derzeit zu heißen. Doch was bedeutet das konkret: Was ist Schulmedizin, und wo verläuft die Grenze zu Komplementär- und Alternativmethoden? Und was kann welche Methode überhaupt leisten? Schon die Begrifflichkeit ist äußerst unklar. Was genau hinter den Bezeichnungen steckt, davon haben viele nur eine vage Vorstellung.

Es ist also nötig, diese Begriffe klar abzustecken. Und da zeigt sich ein schwieriges historisches Erbe. Den Ausdruck von der "verjudeten Schulmedizin" haben nämlich die Nationalsozialisten geprägt. Dieser stellte man die neue deutsche Heilkunde gegenüber, eine Sammlung an "biologischen Heilverfahren" von Naturheilkunde bis zu Homöopathie. "Man wollte alternative Erklärungsmodelle und Methoden abgrenzen und so eine Distanzierung von den vorgeblich jüdisch dominierten Hochschulen erreichen", erklärt Harald Sitte, Pharmakologe an der Med-Uni Wien.

Wissenschaftliche Begründbarkeit

Sitte spricht deshalb von evidenzbasierter oder wissenschaftlich orientierter Medizin. Alternativen diagnostischen Konzepten und Behandlungsmethoden fehle diese evidenzbasierte Komponente häufig, sie seien maximal ein Zusatz zur universitären Medizin. Natürlich gebe es auch bei der wissenschaftlich orientierten Medizin verschiedene Meinungen, die sich auch unterschiedlich wissenschaftlich begründen lassen.

Aber, betont Sitte, "da gibt es Diskussionen, welche der unterschiedlich begründbaren Methoden zum besten Ergebnis für die meisten Menschen führen". Corona sei ein gutes Beispiel: "Es lässt sich eindeutig nachvollziehbar begründen, warum eine Impfung alternativlos ist."

Damit zukünftige Ärztinnen und Ärzte ein Gespür für den Unterschied von evidenzbasierter Herangehensweise und anderen Erklärungsmodellen bekommen, hat Sitte das Wahlfach "Komplementärmedizin: Esoterik und Evidenz" ins Leben gerufen. Hier haben Studierende die Möglichkeit, sich mit Alternativverfahren auseinanderzusetzen, diese nach wissenschaftlichen Kriterien zu erforschen und sich eine Meinung zu bilden, ob an der Methode etwas dran sein kann.

"Wir wollen keine dogmatischen Stehsätze einbläuen, es geht um kritischen Zugang. Die Studierenden sollen sich selbst ein Bild machen. Das bringt meiner Erfahrung nach mehr, als etwas vorzusetzen." Themen wie Phytotherapie, Misteltherapie bei Chemotherapie, Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und mehr werden auf ihre evidenzbasierte Reproduzierbarkeit abgeklopft.

Viele Graubereiche

Tatsächlich, betont Sitte, gebe es viele Graubereiche: "In der TCM und auch dem europäischen Pendant, der TEM etwa finden sich einige Ansätze, die Sinn ergeben. Viele der da eingesetzten Kräuter haben ja eine pharmakologische Wirkung. Aber das Denkmodell der TEM basiert auf der Säftelehre, die TCM verfolgt ein ähnliches Konzept. Das sind Ansätze, die auf Dogmen und überlieferten Traditionen beruhen, aber kein wissenschaftliches Fundament haben und nie überprüft wurden."

Wie auch das Meridiansystem, auf das sich die TCM stützt. Meridiane seien, so die Theorie, Energiebahnen im Körper. Doch selbst TCM-Practitioner in China könnten das System nicht wissenschaftlich erklären. Das bedeute nicht, dass es in diesen Denkmodellen keine Ansätze gebe, die man nutzen könne. Es gebe aber auch Mittel und Methoden, die im besten Fall nutzlos sind, im schlimmsten Fall gefährlich, wie etwa manche Kräuterpräparate.

Und bei der Homöopathie tut sich Sitte wirklich schwer: "Für mich als Pharmakologen ist es schwer zu ertragen, dass die Wirkung genau dann groß sein soll, wenn weniger im Glas ist. Das ist schon eine abstruse Denkweise."

Eine, von der sich Natalie Grams-Nobmann komplett abgewandt hat. Die deutsche Ärztin hat jahrelang als Homöopathin Patientinnen und Patienten behandelt. Bis sie die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Methode genauer hinterfragte und wenig evidenzbasierte Substanz für die Ansätze entdecken konnte. 2015 beendete sie deshalb ihre homöopathische Praxis, im Jahr 2020 erschien ihr Buch Was wirklich wirkt, das Orientierung geben soll im Dschungel medizinischer Mythen. Die Ärztin ist auch auf Twitter aktiv und spricht sich dort klar für die Covid-19-Impfung aus.

Schnelle Abfertigung

Auf die Frage, warum denn die Alternativmedizin so beliebt sei, bestätigt sie, dass unser Medizinsystem einfach sehr schnelllebig sei, die menschlichen Aspekte fehlten. Aber: "Im Moment geht es darum, kein Covid zu bekommen und die Intensivstationen nicht zu überfüllen. Da nutzt es nichts, viel zu reden und auf die Menschen einzugehen."

Tatsächlich bestehe bei vielen Menschen ein Unbehagen, sie empfänden einen Mangel, wenn es um Gespräche mit Ärztinnen und Ärzten gehe, um Zeit und Zuwendung, bestätigt auch Ulrich Körtner, Theologe und Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien. Tatsächlich sind in unserem Medizinsystem ausführliche Gespräche nicht vorgesehen, ein Arzt kann sie nicht abrechnen, nur Diagnostik und Therapie. Körtner sieht deshalb ein Bedürfnis nach einer "anderen, sprechenden Medizin".

Und die suchen viele im alternativen Bereich. Dort haben manche eher das Gefühl, als Individuum wahrgenommen zu werden, mit all ihren Bedürfnissen. Die damit verbundene Selbstaufmerksamkeit ist dabei sehr wichtig, weiß Körtner: "Man nimmt nicht nur eine Pille, und das Thema ist abgehakt. Man beschäftigt sich mit sich selbst, das ist ein grundlegender Aspekt der Alternativmedizin."

Saubere Grenze

Wäre die Grenze zwischen alternativer und evidenzbasierter Medizin sauber gezogen, wäre das eine Bereicherung für alle, ist Grams-Nobmann überzeugt: "Dann könnte man sagen: Mach deine Therapie und dazu Yoga, ernähr dich gesund, nimm Naturheilkunde. Das ist okay on top, torpediert aber nicht die Wissenschaft. Auch nach einem schweren Covid-Verlauf kann naturkundliches Wissen vielleicht helfen, um wieder auf die Beine zu kommen. Aber zu oft wird es vermischt oder führt zum Unterlassen oder Verzögern einer wirklich wirksamen Therapie – und das ist ein großes Problem."

Eine Lösung für den Konflikt dieser beiden Weltanschauungen sieht die Ärztin aktuell nicht: "Ich glaube, man hat es zu lange laufen lassen, nach dem Motto: Hilft es nicht, dann schadet es ja auch nicht. Das stimmt aber so nicht. Der Schaden ist gerade sehr deutlich sichtbar, man kann beim besten Willen nicht mehr sagen: Macht doch nichts, es ist deine persönliche Entscheidung."

Fragwürdige Ganzheitlichkeit

Und Grams-Nobmann räumt auch mit dem Begriff der Ganzheitlichkeit auf: "Wenn man nur auf sich schaut und Aufmerksamkeit beansprucht, dann ist das genau nicht ganzheitlich. Denn man schaut nicht mehr auf andere Menschen. Ganzheitlich bedeutet, auch die Gefährdung anderer durch das eigene Verhalten mitzudenken. Hier braucht es einen weniger egoistischen Standpunkt und mehr Hinausschauen über den eigenen Tellerrand!"

Dieses Problem sieht auch Körtner: "Wir haben, gemessen an früher, ein viel individualistischeres Selbstverständnis. Ich habe meine Rechte, von anderen erwarte ich höchstens, dass sie diese Rechte akzeptieren und mir nichts in den Weg legen." Dazu kommen natürlich auch ein paar Pflichten, man zahlt etwa dem Staat Steuern. Im Gegenzug kümmert sich dieser um das Gesundheitssystem und vieles mehr.

Aber genau hier kommt es zum Bruch. Denn, so der Ethiker: "Wir haben außer Steuern zahlen auch die Pflicht, auf den Allgemeinnutzen zu schauen. Das ist derzeit aber stark unterbelichtet, es fehlt das Verständnis, dass es hier um das große Ganze geht." Sind dann aufgrund individueller Freiheitsansprüche andere Menschen in Gefahr, etwa weil (lebens)wichtige Operationen verschoben werden müssen, entsteht daraus ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Feindbild "Big Pharma"

Und selbst wenn man den ganzheitlichen Ansatz auf die individuelle Behandlung herunterbricht, funktioniert er nicht so klar, wie Pharmakologe Sitte betont: "Bei komplementären Methoden steht ja der gesamte Organismus im Vordergrund. Die Frage ist nur: Womit wird man da behandelt? Was ist in den Präparaten drin, und ist die Wirkung nachvollziehbar? Es ist auch ein ganzheitlicher Prozess, wenn man ein Medikament einsetzt, das verteilt sich ja im ganzen Körper – auch wenn wir damit gezielte Wirkungen hervorrufen. Die Trennlinie ist nicht so einfach zu ziehen."

Und dann gibt es noch das weitverbreitete Feindbild "Big Pharma". Das ist auch nachvollziehbar, es gab genug Skandale in der Geschichte der Pharmaindustrie. Und natürlich gibt es hier große finanzielle Interessen, wie auch die deutsche Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim in ihrem Buch Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit aufzeigt.

Aber es gibt keine klare Trennlinie zwischen gut und böse. Für jedes schwarze Schaf auf der einen Seite gibt es auch eines auf der anderen. Auch hinter alternativen Heilmethoden und Arzneimitteln stecken eine Industrie und finanzielle Interessen, weiß Pharmakologe Sitte: "Die Margen bei diesen Mitteln sind oft sogar deutlich höher, und viele verdienen gutes Geld damit. Auch das birgt eine Gefahr in sich." (Pia Kruckenhauser, 11.12.2021)