Literaturwissenschafter Wolfgang Müller-Funk schreibt im Gastkommentar, dass "im Kern unsere Gesellschaft auf harte und verlässliche Rationalität gegründet ist". Die Impfpflicht werde – rechtlich sattelfest und klug organisiert – zum Abbau von gesellschaftlicher Spaltung führen.

Eine Grazer Demonstrantin gegen die Corona-Politik trägt Maske mit Botschaft.
Foto: APA/Erwin Scheriau

Derzeit ist viel von der Spaltung der Gesellschaft im Gefolge der Corona-Pandemie die Rede. Derlei Versöhnungsrhetorik gehört zum Alltagsgeschäft der Politik. Zur Entschärfung von Konflikten bedarf es freilich des Einverständnisses der Beteiligten. Von versöhnlichen Gesten der neuen Protestierer ist indes nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil, wie einige Straßenszenen und die aggressive Rhetorik der Demonstrierenden gezeigt haben.

Die Spaltung unserer Gesellschaft ist älteren Datums. Die Pandemie macht die in einer demokratischen Ordnung einigermaßen normalen Verwerfungen nur plastisch. Neu ist, dass nunmehr stramme Rechte einiges von ihren linken Gegnern abgekupfert und die Straße für sich entdeckt haben, während doch ihre Lieblingspartei, die Freiheitlichen, auch zu Jörg Haiders Zeiten die Straße vermieden haben und stattdessen polarisierende Volksbegehren unter das Volk gebracht haben. Neu sind die Selbstradikalisierung der einschlägigen Szene sowie die Tatsache, dass sich verlorene Graswurzler, versprengte radikale Linke, Esoteriker und unbestimmt Alternative dem Protest der Rechten anschließen. Dass die ehemalige Grünen-Vorsitzende Madeleine Petrovic bei einer dieser Demonstrationen mit einer Solidaritätsbotschaft aufwartete, bestätigt diesen Befund.

Verschrobene Ideologien

Streit mag unangenehm sein, ist aber unvermeidlich. Demokratisch ausgetragen, setzt er die Bereitschaft voraus, so lange wie möglich rationale Argumente und Gegenargumente auszutauschen. Aber das ist im Fall der Impfdebatte nur schwer denkbar, weil die Ängste und Sorgen schon längst durch verschrobene Ideologien rationalisiert sind. An einem Punkt sind die Impfgegner hierzulande und in der Nachbarschaft wirklich immun: nämlich gegen die praktische Vernunft der Impfung. Diese "Immunität" ist längst Teil ihrer Identität und entfaltet eine starke Abwehrkraft gegen jedwedes rationale Argument.

Im Gefolge der Pandemie ist viel über Verschwörungstheorien geschrieben und gesprochen worden. Ein Punkt ist dabei unterbelichtet geblieben: Sie unterstellen den gewählten politischen Organen und den Wissenschaftern die geradezu teuflische Absicht, sie durch Impfung systematisch zu schädigen, ihre Fähigkeit zur Zeugung, ihre Gesundheit, ihre Pensionen, ihre wirtschaftliche Existenz zu untergraben und am Ende ihr Leben zu verkürzen. Das Problem der Protestanten ist, dass sie mit den von ihnen zu Impfteufeln stilisierten Gegnern gar nicht reden können. Ihre Anführer verbreiten doppelt Furcht und Schrecken: Angst vor der Impfung und Angst vor ihnen.

"Jetzt scheint die Zeit reif, sich an denen da oben zu rächen, indem man sich nicht impfen lässt und sich damit, sein Umfeld und die gesamte Gesellschaft in Gefahr bringt. Der Freud’sche Todestrieb lässt grüßen."

Die Spaltung der österreichischen Gesellschaft seit dem Niedergang der großen Koalition ist nicht neu, hat aber ihr Gesicht geändert. Noch nie hat es eine derartig perverse Wut-Koalition gegeben. Sie speist sich aus zwei Quellen, zunächst aus einer manichäischen Anti-Politik, von Oben und Unten, von Gut und Böse – eine Erbschaft autoritärer Traditionen nicht nur in Österreich. Diese Ablehnung von Politik ist selbst autoritär strukturiert, aus ihr spricht Sehnsucht nach Stärke. Von daher war es ein schwerer Fehler der Politik, die Möglichkeit einer Impfpflicht als Ultima Ratio so lange kategorisch auszuschließen.

Die andere Quelle kommt aus einer ganz anderen Richtung und richtet sich – an Petrovic’ Grußbotschaft gut ablesbar – gegen Wissenschaft und "Schulmedizin". Diese Ablehnung vereint "kritische" und "alternative" "Querdenker". Wer sich nicht impfen lassen will, der hat auch den pauschalen Vorwurf der "bitteren Pillen" und die Abscheu, dass – unbestreitbar – mit Gesundheit Geschäfte gemacht werden, im Kopf. Jetzt scheint die Zeit reif, sich an denen da oben zu rächen, indem man sich nicht impfen lässt und sich damit, sein Umfeld und die gesamte Gesellschaft in Gefahr bringt. Der Freud’sche Todestrieb lässt grüßen.

Die Corona-Krise ruft uns in Erinnerung, dass sich unsere Gesellschaft, die Sicherheit, die sie uns bietet und die unseren Wohlstand hervorgebracht hat, dieser oftmals ungeliebten Technik und Wissenschaft verdanken. Es stimmt, die biologische Landwirtschaft funktioniert, obwohl wir nicht wissen, weshalb. Es gibt indes keinen wirksamen biodynamischen Impfstoff, über den sich ernsthaft diskutieren ließe. Im Kern ist unsere Gesellschaft auf harte und verlässliche Rationalität gegründet. Die Krise lässt uns das wissen. Diese Abhängigkeit von einer instrumentellen Vernunft ist philosophisch unbequem.

Positive Folgen

Bei allem Respekt vor Minderheiten müssen wir uns fragen, ob es legitim ist, dass sie über die Zukunft eines Landes und das Wohl und Wehe seiner Bürgerinnen und Bürger bestimmen. Die Impfpflicht hat positive Folgen nicht nur für unsere Gesundheit, sondern auch für das Zusammenleben. Sie wird, rechtlich sattelfest und klug organisiert, schon bald – man denke an das verzögerte Rauchverbot in Restaurants – zum Abbau gesellschaftlicher Spaltungen führen. Den Impfgegnern wird die Entscheidung abgenommen. Sie müssen sich vom bösen Staat impfen lassen und können ihr Gesicht wahren.

In Molières Der eingebildete Kranke sagt Toinette zu ihrem Herrn: "Wenn der Herr und Meister unüberlegt handelt, hat die Magd, die nicht auf den Kopf gefallen ist, das Recht, ihm Vernunft beizubringen." Man möchte der Regierung wünschen, dass ihre Minister zu ihrem Souverän so sprechen wie die couragierte Dienstbotin zu dem ihren. (Wolfgang Müller-Funk, 11.12.2021)