Die Besetzerinnen und Besetzer kündigten an, das Protestcamp nicht freiwillig zu verlassen.

Regine Hendrich

Wien – Die Situation rund um die Besetzung der Baustelle für die Wiener Stadtstraße spitzt sich weiter zu. Am Freitag wurden Aktivistinnen und Aktivisten im Protestcamp bei der Hausfeldstraße in einem Schreiben aufgefordert, die Baustelle zu verlassen. Fridays For Future Wien kritisierte dieses aufs Schärfste – und sprach in einer Aussendung am Samstag von einem "Einschüchterungsversuch" der Stadtregierung.

Das Schreiben der Stadt Wien war an Vertreter jener Organisationen zugestellt worden, die hinter der Besetzung stehen – etwa Fridays for Future, System Change Not Climate Change oder Extinction Rebellion. Kommen die Besetzer der Aufforderung nicht nach, sehe sich die Stadt genötigt, rechtliche Schritte zu ergreifen. Das sagte Thomas Keller, Leiter der Abteilung Straßenbau (MA 28), dem STANDARD. "Wir haben den Aktivisten die möglichen zivilrechtlichen Folgen erklärt."

Eine Räumung der Baustelle habe man vorerst nicht vor, sagte Keller. Sollten sich die Aktivisten aber nicht kooperativ verhalten, "kann man nichts ausschließen". Die Stadt wolle schließlich die Bauarbeiten starten, ansonsten würde der wirtschaftliche Schaden durch die Besetzung weiter fortgesetzt werden. Laut den Besetzern peilt die Stadt bereits mit kommendem Montag die Wiederaufnahme der Bautätigkeiten an. Das wollte Keller nicht bestätigen.

Die Baustelle ist seit mehreren Monaten besetzt.
Regine Hendrich

"Wir als Klimabewegung werden uns sicher nicht entmutigen lassen und weiter gegen die Stadtautobahn protestieren", hieß es dazu in der Aussendung von Fridays For Future. Und weiter: Mit der Androhung einer Klage sollen die Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten "mundtot gemacht" werden, ein "demokratiepolitisch inakzeptables Vorgehen", und das ausgerechnet am internationalen Tag der Menschenrechte. Außerdem bedrohe die Klimakrise heute schon die Menschenrechte von Millionen von Menschen, kritisiert die Aktivistin Anna Ennsgraber in dem Schreiben.

"Aufs Schärfste" verurteilt auch die Umweltschutzorganisation Greenpeace die "systematischen Einschüchterungsversuche" durch die Stadt Wien mittels anwaltlicher Schreiben – unabhängig davon, ob sich Adressaten tatsächlich an den Protesten gegen die Stadtstraße vor Ort im Protestcamp beteiligt oder sich nur kritisch dazu geäußert hätten.

Sophie Lampl ist Direktorin für Kampagnen und Kommunikation bei Greenpeace Österreich.

Kritik an der SPÖ kam am Samstag auch vom Grünen-Nationalratsmandatar und Klimaschutzsprecher Lukas Hammer. Er zeigte sich "entsetzt", dass die Stadt Wien mit "Einschüchterungsmaßnahmen gegen die Klimagerechtigkeitsbewegung vorgeht" und, dass die Neos den Schritt "stillschweigend mittragen". Im Protestcamp Hirschstetten säßen junge Menschen, die um ihre Zukunft kämpfen. "Und der Beton-SPÖ fällt nichts Besseres ein, als ihnen mit Millionenklagen zu drohen und das direkte Gespräch zu verweigern," kritisiert Hammer. Und: "Wenn Bürgermeister Ludwig seine eigenen Klimaziele ernst nimmt, dann muss er ab nächster Woche einen Klimacheck der Stadtautobahn durchführen und die Drohbriefe gegen Aktivist*innen zurückziehen".

Protestcamp gilt als aufgelöst

Das Protestcamp gilt übrigens schon seit Donnerstag behördlich als aufgelöst: Die Polizei teilte den Aktivistinnen und Aktivisten auf Antrag der Stadt Wien mit, dass diese das Protestcamp als Grundstückseigentümerin nicht mehr dulde. Die Baustelle ist seit mehreren Monaten besetzt. Protestiert wird einerseits gegen die Stadtstraße, die als Verbindung zwischen Südosttangente und Seestadt Aspern errichtet werden soll, sowie gegen den Bau des Lobautunnels. Verkehrsministerin Leonore Gewessler (Grüne) hat zwar angekündigt, den Bau des umstrittenen Autobahntunnels durch das Naturschutzgebiet nicht mehr weiterzuverfolgen. Gegen diese Entscheidung prüfen Wien und Niederösterreich aber aktuell rechtliche Schritte.

Dialog hat "zu keinen Ergebnissen geführt"

Bei der Stadtstraße argumentierte die Stadt im Schreiben an die Besetzer damit, dass das Projekt kritisch geprüft worden sei und es für die Entwicklung von Wohnungen für 60.000 Personen im Nahebereich der vierspurigen Gemeindestraße unerlässlich sei. Zudem sei die Errichtung der Straße – gemeinsam mit der S1-Spange – auch Bedingung im UVP-Bescheid für die Errichtung dieser Wohnungen in den Stadtentwicklungsgebieten in der Donaustadt.

"Der bestehende Dialog zwischen der Stadt Wien und den Aktivistinnen und Aktivisten hat zum Bedauern der Stadt Wien zu keinen Ergebnissen geführt", wurde beklagt. Verwiesen wurde auch auf Beschwerden von Anrainern über das "Verhalten" der Besetzer – wobei dies nicht konkretisiert wurde.

Versichert wurde jedenfalls: "Der Allgemeinheit entstehen durch dieses rechtswidrige Verhalten und die Verzögerung der Bauarbeiten immens hohe Schäden. Wir weisen darauf hin, dass unsere Mandantin (die Stadt Wien, Anm.) verpflichtet ist, diese Schäden von den Verursachern einzufordern." Es bestehe nach höchstgerichtlicher Rechtsprechung eine solidarische Haftung sämtlicher Beteiligter, hieß es.

Besetzer wollen nicht weichen

"Wir sind bereit für alles, was von der Stadt kommt. Die Besetzungen bleiben, bis auch die Stadtautobahn abgesagt wird", reagierte Lena Schilling vom Jugendrat am Freitag. "Die Absage der Lobauautobahn war schon immer nur eines unserer Ziele. Wir setzen uns für eine echte Mobilitätswende ein – und die wurde noch lange nicht eingeleitet", bekräftigte Lucia Steinwender von System Change Not Climate Change.

Alternativen würden längst am Tisch liegen, zeigte man sich überzeugt – wobei vor allem auf den Öffi-Ausbau verwiesen wird. Das Festhalten an "fossilen Monsterprojekten" wurde hingegen kritisiert. Zudem wird gewarnt, dass die Stadtstraße doch noch den Tunnel bringen könnte. "Erst wenn auch die Stadtautobahn begraben wird, ist die Lobau vor den Baggern sicher. Denn eine fertige Stadtautobahn würde nur als Argument benutzt werden, den Lobautunnel doch noch zu bauen", warnte Florian Mayr von Extinction Rebellion.

Die Stadtstraße wird zwar mehrspurig errichtet, formal handelt es sich dabei aber um keine Autobahn. Vielmehr stellt die 3,2 Kilometer lange Verbindung eine Gemeindestraße mit Höchsttempo 50 km/h dar – die darum auch von der Stadt gebaut wird.

Neues Rechtsgutachten zum Lobautunnel-Baustopp

Die Wirtschaftskammer Wien hat wiederum zum gestoppten Bau des Lobautunnels ein neues Rechtsgutachten vorgelegt. Dieses kommt demnach zu dem Schluss, dass die Entscheidung des Umweltministeriums "willkürlich und ohne jegliche Rechtsgrundlage" gefallen ist. Die Kammer sah den Aufsichtsrat der Asfinag nun gut beraten, "Schäden für die Aktiengesellschaft, den Wirtschaftsstandort und die Menschen in der Ostregion abzuwenden", wie es in einer Aussendung hieß.

"Dieses neue Rechtsgutachten zeigt sehr klar, dass Aufsichtsratsmitglieder der Asfinag haften, wenn sie einem Bauprogramm zustimmen, in dem Straßenteile nicht oder nicht mehr enthalten sind, die im Bundesstraßengesetz festgelegt sind. Das ist bei der S1 inklusive Lobautunnel der Fall", sagte Walter Ruck, Präsident der Wirtschaftskammer Wien.

Ludwig sieht "willkürliche Entscheidung" von Gewessler

Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) fühlte sich durch das Gutachten bestätigt, wie er via Aussendung mitteilte: "Der Eindruck, dass es sich hier um eine willkürliche Entscheidung der Verkehrsministerin handelt, war bereits durch den Umstand der völligen Intransparenz des Entscheidungsprozesses gegeben. Außerdem blieb man bis heute jegliche Erklärung über eine entsprechende Rechtsgrundlage für diese weitreichende Entscheidung seitens des Ministeriums schuldig."

Die Freude wurde von der Wiener ÖVP geteilt. Für Neo-Obmann Karl Mahrer und Klubchef Markus Wölbitsch betonten in einer Aussendung: "Der Lobautunnel muss von Bundesministerin Gewessler umgesetzt werden." Ohne Lobautunnel werde sich auch weiterhin der Schwerverkehr mitten durch die Stadt wälzen und einen zusätzlichen CO2-Ausstoß von rund 75.000 Tonnen jährlich erzeugen, warnte die Volkspartei. Pro Jahr würden angesichts der Verzögerung des Baus Staukosten von rund 500 Millionen Euro verursacht.

Die Asfinag versicherte in einer der APA übermittelten Stellungnahme, dass "selbstverständlich" alle Entscheidungen von Vorstand und Aufsichtsrat den gültigen rechtlichen Bestimmungen entsprechen würden. Sie erfolgten zudem im Unternehmensinteresse, beteuerte man.

"SPÖ verbreitet Fake-News"

Kritik an der SPÖ kam vom Ex-Koalitionspartner, den Wiener Grünen. "Die SPÖ verbreitet Fake-News: Ministerin Gewessler hat nur gesagt – wenn sich die Stadt Wien entschließt, die Stadtstraße zu bauen, wird sie ihren Teil der Vereinbarung erfüllen. Die Verantwortung liegt also bei der Stadt", hielt Mobilitätssprecher Kilian Stark fest. Noch sei Zeit umzudenken, die Alternativen würden seit Jahren auf dem Tisch liegen.

"Die SPÖ muss jetzt aus dem Schmollwinkel raus und ihre Blockade gegen klimafreundliche Mobilität endlich aufgeben", forderte Stark. "Die Stadtautobahn 'Stadtstraße' ist ein Projekt der Stadt Wien. Dieses braucht jetzt, nach dem Stopp der Lobauautobahn, auch einen Klimacheck."

Die Wiener FPÖ sieht dies anders. Deren Verkehrssprecher Anton Mahdalik begrüßte, dass die SPÖ "nach Wochen endlich auf FPÖ-Linie" eingeschwenkt sei und Schadenersatzklagen gegen die arbeitsscheuen Profidemonstranten prüfe. Er hoffe, dass es sich nicht nur um leere Drohungen handle, sondern dass der Schaden von 22 Millionen Euro auch tatsächlich eingeklagt werde. (red, APA, 10.12.2021)