Schach-Genie: Magnus Carlsen verteidigte seinen WM-Titel zum vierten Mal in Serie.

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Ein letztes Gespräch mit Jan Nepomnjaschtschi.

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Ein letzter Blick auf das Brett. Man sieht sich bei der WM Ende 2022 oder Anfang 2023.

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Dubai – Als die Spieler sich zur elften Partie niedersetzen, ist nicht unbedingt damit zu rechnen, dass die Schach-WM bereits am heutigen Freitag zu Ende gehen wird. Zwar räumt de facto niemand mehr Jan Nepomnjaschtschi realistische Chancen ein, das Match noch zu drehen. Zu deutlich der Drei-Punkte-Rückstand bei maximal noch vier zu spielenden Partien, zu schwach und fehleranfällig das Spiel des Herausforderers seit der verlorenen Acht-Stunden-Schlacht in Runde 6.

Was man jedoch erwarten darf: einen letzten ernsthaften Versuch Nepos, mit den weißen Steinen doch noch einen Sieg in diesem Wettkampf zu erzielen und das Match damit zumindest ein wenig zu prolongieren. Carlsen, so viel scheint klar, wird von seiner Strategie absoluter Solidität mit den schwarzen Steinen nicht abweichen, um sich mit einem weiteren Remis bis auf einen halben Punkt an das Ziel Titelverteidigung heranzuschieben.

Giuoco Pianissimo

Die ruhige Italienische Partie, die bald am Brett steht, scheint der vorgezeichneten Dramaturgie für diese 11. Partie perfekt zu entsprechen. Einerseits vermeidet Nepomnjaschtschi damit die Spanische Anti-Marshall-Variante, in der er seinen Gegner in diesem Match nie in echte Bedrängnis bringen konnte. Andererseits sollte der Weltmeister in den auch "Giuoco Pianissimo" geheißenen italienischen Gefilden beste Chancen haben, die leichte Initiative, über die der Weiße verfügt, durch sein typisch geduldiges Defensivschach Zug um Zug zu neutralisieren.

Nicht zuletzt kehren Carlsen und Nepomnjaschtschi mit ihrer Eröffnungswahl gleichsam respektvoll zu den Ursprüngen zurück. Schon in den ältesten überlieferten Schriften zum Schachspiel, die auf das Ende des 15. Jahrhunderts datieren, ist die Italienische Partie prominent vertreten. Bis ins 19. Jahrhundert galt sie als idealtypischer Partieanfang, bevor das 20. Jahrhundert viele neue, dynamische Ideen brachte und ihre Popularität nach und nach schwinden ließ. Ausgerechnet das Computerzeitalter beschert Italienisch nun aber auf Top-Niveau seit ungefähr zehn Jahren eine intensive Renaissance. Im Vergleich zur Spanischen Eröffnung gibt es hier noch mehr frische Ideen zu entdecken, auch wenn sie meist nur dafür taugen, den Gegner in einer einzigen Partie zu überraschen.

Fehlende Akkuratesse

Magnus Carlsen zeigt sich vom Italienischen Aufbau Nepos allerdings wenig überrascht – und wenn, dann zumindest nicht negativ. Ausgangs der Eröffnung verschwinden bald beide Läuferpaare auf den kommunizierenden Feldern e3 und e6 vom Brett. Da Weiß in der symmetrischen geschlossenen Stellung nicht einmal über Raumvorteil verfügt, stellt sich bald die Frage, worauf Jan Nepomnjaschtschi ein allfälliges Spiel auf Gewinn hier und heute noch gründen möchte. Wie so oft in diesem Match spielt Nepo wieder einmal schneller als der Weltmeister, nur gibt es dafür leider keine Punkte. Die werden stattdessen für Akkuratesse vergeben – und ausgerechnet auf diesem Gebiet hat der Herausforderer seit Runde 6 nicht mehr viel vorzuweisen.

Was genau der Russe heute übersehen hat, als er im 23. Zug Carlsens Turm angreift und dem Weltmeister damit einen heftigen Angriff auf den weißen König erlaubt, ist nicht gänzlich klar. Zur schlechten Form dürfte sich bei Nepo in diesem Moment die Frustration gesellen, seinem Kontrahenten einmal keinerlei echte Schwierigkeiten bereitet zu haben. So macht der Herausforderer sich die Schwierigkeiten stattdessen selber: Nach dem naheliegenden Qualitätsopfer 23...dxe3! dringt die schwarze Dame mit Schachgeboten in die weiße Königsfestung ein. Das Ergebnis ist für den Anziehenden katastrophal. Denn Magnus Carlsen kann sich nun einen von mehreren Wegen aussuchen, um Partie elf zu gewinnen und seinen WM-Titel schon an diesem Freitag erfolgreich zu verteidigen.

Ein letztes Turmendspiel

Überraschenderweise entscheidet sich der Weltmeister nicht für den simpelsten Pfad, der in der Einschaltung seines Turms in den Königsangriff bestünde. Was Carlsen stattdessen tut, erscheint ihm aber offenbar simpel genug. Er holt statt des Turms seinen Springer heran, der die unkoordinierte weiße Truppe im Verein mit der Dame in wenigen präzisen Zügen schwindlig spielt.

Das geopferte Material bekommt Carlsen dabei bald mit Zinsen zurück: Nepo muss den Balast über Bord werfen, um nicht unmittelbar matt zu werden. So steht nach 34 Zügen ein Turmendspiel auf dem Brett, in dem der Weiße mit seinem Minusbauern unter Amateuren vielleicht noch praktische Schwindelchancen hätte. Gegen Magnus Carlsen sind solche Chancen im Match zu Dubai dagegen nicht mehr als eine Fata Morgana. Der Norweger nutzt die ihm verbliebene Bedenkzeit wie schon in den vorherigen Gewinnpartien, um alles bis zum bitteren Ende durchzurechnen.

Nachdem Carlsen seinen h-Bauern in eine Dame verwandelt hat, benötigt er nur noch ein paar exakte Züge, um Weiß am Vorschieben seines eigenen Freibauern zu hindern. Er löst die Aufgabe wenig überraschend fehlerfrei. Nach 49 Zügen gibt Jan Nepomnjaschtschi zum vierten und letzten Mal in diesem Wettkampf auf. Magnus Carlsen gewinnt die WM 2021 mit beeindruckenden 7,5:3,5 Punkten.

Fünfmal Weltmeister

In der Pressekonferenz nach der letzten Partie sind beide Spieler dann sichtlich bemüht, Jan Nepomnjaschtschis Leistung nicht als so desaströs zu benennen, wie sie nüchtern betrachtet insgesamt doch war. Nepomnjaschtschi spricht mit leicht sarkastischem Unterton von einer wichtigen Erfahrung, die man sich nicht anlesen, sondern nur durch das Spielen einer WM erwerben könne, und sieht die Gründe für seine Niederlage im außerschachlichen, psychologischen Bereich. Carlsen wiederum zeigt sich hochzufrieden mit seiner Leistung, lobt aber auch das Spiel seines Gegners in den ersten fünf Match-Partien – bevor der Weltmeister dann doch eingesteht, dass dieses WM-Match "nach der Anfangsphase eines der leichteren" gewesen sei.

Am Ende kann man Magnus Carlsen nur aufrichtig gratulieren. 2013 errang der Mann aus Tønsberg, damals erst 22-jährig, den WM-Titel im klassischen Schach gegen Viswanathan Anand. Viermal hat Carlsen seine Krone seither verteidigt, nie tat er es überzeugender als 2021 in Dubai. Auch wenn das in der zweiten Matchhälfte unerwartet erratische Spiel des Herausforderers daran einen nicht geringen Anteil hatte: Der Weltmeister hat mit diesem Triumph in Dubai alle Kritiker, die ihn nicht mehr am absoluten Zenith seines Könnens wähnten, zumindest bis auf Weiteres eines Besseren belehrt.

Der österreichische Schachgroßmeister Markus Ragger analysiert Partie 11.
Österreichischer Schachbund

Und die nächsten Aufgaben warten schon: Nachdem die für 25. bis 31. Dezember in Kasachstan geplante Schnellschach- und Blitz-WM am Mittwoch kurzfristig abgesagt worden war, fand sich mit dem polnischen Schachverband nun ein Ausrichter, der in die Bresche springt. Schachweltmeister Magnus Carlsen wird also zu Monatsende in Warschau doch Gelegenheit haben, auch seine beiden Titel in den schnelleren Formaten gegen ein Feld an starken Herausforderern zu verteidigen.

Ein neuer Kandidat

Unter diesen darf auch die neue Nummer zwei der Weltrangliste, der seit Kurzem für Frankreich spielende 18-jährige Alireza Firouzja, erwartet werden. Viele sehen im aus dem Iran stammenden jungen Mann, der für das Kandidatenturnier im nächsten Jahr qualifiziert ist, den gefährlichsten potentiellen Herausforderer für Langzeit-Weltmeister Carlsen. Und auch der Champ zeigt sich bei der Abschluss-Pressekonferenz in Dubai beeindruckt über Firouzjas jüngste Leistungen und gibt zu Protokoll: "Das hat mich hier mehr als alles andere motiviert."

Nach der Schach-WM ist also vor der Schach-WM. Der König aber heißt immer noch: Magnus Carlsen. (Anatol Vitouch, 10.12.2021)