Mehr als ein Jahr lang hatte die Staatsanwaltschaft Innsbruck ermittelt. Gegenstand war der Verdacht der Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten (§§ 178, 179 Strafgesetzbuch) infolge zu später Reaktion der Gesundheitsbehörden auf die ersten Corona-Fälle im Tiroler Skiort Ischgl. Am 24. 11. 2021 stellte die Anklagebehörde das gegen fünf Beschuldigte geführte Verfahren ein. Das Verhalten der Beamten sei "strafrechtlich nicht zu fassen". Eine Woche später wies das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien die ersten Amtshaftungsklagen von Ischgl-Opfern ab, ohne auch nur einen einzigen Zeugen oder Sachverständigen einvernommen zu haben. Nicht einmal die Kläger wurden angehört. Das Epidemiegesetz, auf das sich die Geschädigten beriefen, schütze nur die Allgemeinheit. Ein Einzelner könne selbst bei eklatanten Fehlern der Behörde keine Amtshaftung geltend machen. Außerdem hätten die Beamten aus damaliger Sicht ohnedies alles richtig gemacht.

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Die Skilifte in Ischgl haben wieder geöffnet. Die Diskussionen über Versäumtes und Fehler im Vorjahr verstummen aber nicht.
Foto: Reuters/Leonhard Föger

Beide Entscheidungen verkennen die Sach- und Rechtslage fundamental. Die Gesundheitsbehörden in Wien und Tirol hatten spätestens am Donnerstag, dem 5. März 2020, nachweislich Kenntnis davon, dass mehrere isländische Ischgl-Urlauber nach ihrer Rückkehr positiv auf Corona getestet worden waren. Noch am selben Tag wusste man, dass bei einigen die Symptome bereits in Ischgl aufgetreten waren. Die anfangs vermutete These, die Isländer könnten sich beim Rückflug angesteckt haben, war damit sogleich widerlegt. Auch weitere Fälle mit Ischgl-Bezug waren schon amtsbekannt.

Kein Spielraum

Bei dieser Sachlage ließ das Epidemiegesetz den Behörden nicht den geringsten Spielraum. Unverzügliche Eindämmung der drohenden Gefahr wäre geboten gewesen. Bis zur Abklärung der Lage hätte niemand unkontrolliert das Paznauntal verlassen oder betreten dürfen. Stattdessen veröffentlichte der Pressedienst des Landes Tirol wider besseres Wissen die Mitteilung, dass sich die Isländer wahrscheinlich auf dem Rückflug angesteckt hätten. Tatenlos ließ man zu, dass zwei Tage später, am Samstag, dem 7. März 2020, der Urlauberschichtwechsel stattfand. Selbst als ein Kellner der mittlerweile berühmt-berüchtigten Après-Ski-Bar Kitzloch positiv getestet wurde, erlaubten die Behörden nach bloßer Oberflächendesinfektion und Austausch des Personals die Wiederöffnung. Empfehlungen von Virologen, den Skibetrieb im Paznauntal unverzüglich zu beenden, wurden ignoriert.

Erklärbar ist dieses Verhalten nur durch die wirtschaftlichen Interessen an einer möglichst langen Aufrechterhaltung des lukrativen Wintertourismus. Tatsächlich belegen Chatprotokolle und E-Mails Interventionen vonseiten der Wirtschaft bei Tiroler Politikern. Dennoch verneinten Staatsanwaltschaft und Zivilgericht derartige Einflussnahmen, ohne den Rechtsvertretern der Geschädigten die Möglichkeit zu geben, Zeugen zu befragen und mit den Beweisdokumenten zu konfrontieren.

Auch die Verantwortung auf Bundesebene wäre zu untersuchen gewesen. Der Gesundheitsminister griff nicht ein, obwohl für ihn ersichtlich gewesen sein muss, dass in Tirol die Dinge aus dem Ruder liefen. Und der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz verursachte eine fluchtartige Abreise tausender Touristen, als er am 13. März 2020 ohne Abstimmung mit den örtlichen Behörden in einer Pressekonferenz verkündete, das Paznauntal und St. Anton wären "ab sofort isoliert". Wer sich bis dahin noch nicht in Bars, Hotels oder Seilbahnen angesteckt hatte, infizierte sich nun in stundenlang im Stau steckenden Autos und Autobussen.

Das Argument, man hätte im März 2020 noch nicht gewusst, wie auf die Gefahr zu reagieren sei, überzeugt nicht. So riegelte Italien, wo es schon die ersten Corona-Toten gab, bereits im Februar ganze Dörfer ab. Und auch in Österreich hatten die Behörden gezeigt, wie man es richtig macht. Als am 25. Februar 2020 eine Hotelangestellte in Innsbruck positiv getestet wurde, wurde der Betrieb unverzüglich geschlossen.

Schwer zu bekämpfen

Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Innsbruck, keine Anklage zu erheben, und die Urteile des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien erwecken leider den Eindruck, man wolle die Fehler von Ischgl unter den Teppich kehren, anstatt die Frage nach der Verantwortung in öffentlicher mündlicher Gerichtsverhandlung aufzuarbeiten. Beim Zivilgericht kommt hinzu, dass es anscheinend versucht, seine Urteile gegen eine Berufung abzusichern, indem es zahlreiche Tatsachenfeststellungen trifft, die die Untätigkeit der Behörden rechtfertigen sollen. Praktiker des Zivilprozesses wissen: Derartige Feststellungen, mögen sie auch noch so falsch sein, sind in der Berufung nur schwer zu bekämpfen. Und beim Obersten Gerichtshof kann eine unrichtige Beweiswürdigung überhaupt nicht mehr geltend gemacht werden.

All dies ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der zahlreichen Menschen, die sich in Ischgl mit dem Virus infizierten und zum Teil schwer erkrankten, teilweise sogar verstarben. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, keine Anklage zu erheben, und die Entscheidung des Zivilgerichts, keinen einzigen Kläger, Zeugen oder Sachverständigen zu vernehmen, verletzen vor allem den berühmten englischen Rechtssatz "Not only must justice be done; it must also be seen to be done" ("Gerechtigkeit muss nicht nur geübt werden, es muss auch nach außen erkennbar sein, dass sie geübt wird"). Dieser Grundsatz hat mit gutem Grund Eingang in die Europäische Menschenrechtskonvention und die Europäische Grundrechtecharta gefunden. (Alexander Klauser, 13.12.2021)