Wien – Nach dem "Tatort Bremen" ging es am Sonntagabend für viele Zuschauerinnen und Zuschauer über die Direttissima weiter zum Tatort Wien, der im Gegensatz zu Ersterem aber nicht nur auf ORF 2 lief, sondern "durchgeschaltet" wurde zu Puls 4 und ATV. Auf dem Programm stand nämlich eine Sonderausgabe, im Kanzleramt am Ballhausplatz wurde das erste Live-Interview des neuen Bundeskanzlers in Szene gesetzt.

ORF

Der ÖVP-Chef und am Montag als Regierungschef angelobte Karl Nehammer hatte sich sieben Tage Einarbeitungs- oder Vorbereitungszeit genommen, um am späten Sonntagabend im seinem ersten Live-Fernsehinterview den fernschauenden Teil der Nation über seine Pläne als Chef der türkis-grünen Koalition zu informieren – und zwar entlang der Fragen, die ein Moderationsdoppel formulierte: "ZiB 2"-Anchorman Armin Wolf und Puls-4-Infochefin Corinna Milborn.

Los ging es gleich einmal mit dem zeitlichen Korsett, in das alles hineingepackt werden sollte: 30 Minuten habe man, sagte Armin Wolf, die Bitte um kurze Antworten wurde nach knapp 20 Minuten erneut eingeflochten. Da hatte man erst ein einziges Thema bearbeitet, nämlich die Causa prima seit dem Frühjahr 2020: die Corona-Pandemie.

Appelle an die Ungeimpften

Nehammer richtete seine Aussagen vor allem an die Ungeimpften, die er später auch bewusst als "Besorgte" ansprach. Gleich zu Beginn betonte er, gefragt, wie man verstehen könne, dass Vorarlberg mit den höchsten Infektionszahlen alles aufmache, Wien hingegen, das die niedrigste Inzidenz habe, auf Nummer sicher gehe und noch zuwarte: "Der Lockdown für alle endet, der Lockdown für Ungeimpfte bleibt." Der Kanzler hatte aber gleich Hoffnung mit für jene, die von dieser "massiven einschneidenden Maßnahme" betroffen seien: Das Impfen führe alle aus dem Lockdown heraus ... Subtext: Man muss es nur tun. Er wiederholte das, was nach dem Corona-Gipfel mit den Ländern am Mittwoch schon verkündet wurde: Die Expertinnen und Experten hätten die Öffnungsschritte für "vertretbar" erklärt – weil sie "mit größter Vorsicht" umgesetzt würden. "Es geht nicht alles auf", betonte Nehammer.

Appell auch an "Elli" Köstinger

Armin Wolf dirigierte das Gespräch dann in die pandemische Kampfzone auf der politischen Ebene, indem er Aussagen von Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) jenen von FPÖ-Chef Herbert Kickl gegenüberstellte: Köstinger hatte am Samstag davon gesprochen, dass Kickl, der mit zweifelhaften Selbstmedikationstipps (Stichwort Pferdeentwurmungsmittel) auffällig wurde, "Blut an den Händen" habe, woraufhin dieser bei der ÖVP-Ministerin "Mist im Kopf" diagnostizierte. Was tun als Kanzler, der von Dialog und Versöhnung spricht? "Es braucht ein Abrüsten der Worte auf allen Seiten", sagte Nehammer und ließ wissen: "Ich habe mit Elli Köstinger gesprochen. Das Abrüsten der Worte ist wichtig." Der Kanzler unterstrich allerdings auch, dass Kickl es sei, der "eine sehr aggressive Sprache" pflege, Falschinformationen weitergebe. Dennoch gebe es von ihm, Nehammer, weiterhin "auch ein klares Gesprächsangebot an die FPÖ".

Das war jene Stelle in dem Interview, an der Nehammer in seinen Altgriechisch-Resten aus der Schule kramte und den Satz "Die Zunge ist schärfer als das Schwert" zitierte und auf Verletzungen, "die nie wieder gutzumachen sind", hinwies.

Es hollerte und echote und schallte

Das alles tat der ausgebildete Kommunikationstrainer in einer ruhigen Gestik und kontrollierten, kameraerfahrenen Mimik, an einem Tisch sitzend, auf dem drei Wassergläser standen, im Hintergrund ein Adventkranz, augenscheinlich auf die Fernsehdistanz noch nicht "in Betrieb", denn die Kerzen wirkten unangezündet – und mit ausbaufähiger Tonqualität. Es hollerte und echote und schallte immer wieder auffällig, einmal wurde sogar eine Sendungssignation eingespielt. Nehammer ließ sich nicht irritieren, Armin Wolf entschuldigte sich am Schluss für die Tonqualität.

Als es um die Corona-Demonstrationen und deren problematische Zusammensetzung ging, warnte Nehammer, dass, "wenn eine Mischung aus besorgten Bürgerinnen und Bürgern und gewaltbereiten Rechtsextremen, Staatsverweigerern sowie neuen und alten Rechtsextremen" aufmarschiere, "die Gruppe der Besorgten instrumentalisiert wird – und dann wird es bedenklich".

Wenn die FPÖ jetzt meine, die Regierung errichte eine Diktatur in Österreich, dann will Nehammer zwar keine verfassungsjuristische Einschätzung abgeben, ob sich die Blauen damit noch im "Verfassungsbogen" befinden, sagte aber, dass er deren "ganz anderen politischen Kampf" nicht gut finde. Ist die FPÖ derzeit regierungsfähig? "Nein, derzeit nicht."

Schluss mit den dauernden Vorwürfen

Corinna Milborn versuchte eine konkrete Impfquote aus dem Kanzlermund zu hören, die kam aber nicht, stattdessen erneut Impfappelle und ein Appell an die gesamte Gesellschaft: "Wir müssen aufhören mit dieser Vorwurfskultur." Die "Schwarmintelligenz der globalisierten Wissenschaft" habe uns entscheidend geholfen und werde das weiterhin tun. Es bleibe als Faktum: "Die Impfpflicht ist die Ultima Ratio, weil sie keiner will", sagte Nehammer auf Milborns Frage. "Dass diese Pflicht so polarisiert, war nicht vorhersehbar, ist aber alternativlos."

Angesichts der neuen Virusvariante Omikron möchte der neue Regierungschef "Entscheidungsfindungen beschleunigen" und das Netz mit Expertinnen und Experten "noch engmaschiger machen". Und erneut die Bitte: "Das Impfen hilft immer, selbst wenn Omikron andere Dimensionen erreicht. Impfen schützt unterschiedlich, am stärksten mit dem dritten Stich. Impfen ist das oberste Gebot", wiederholte Nehammer fast mantraartig die Botschaft der (halben) Stunde.

Ein Lernender in neuer Rolle

An dieser Stelle intervenierte Armin Wolf mit der Bitte um kürzere Antworten und wollte wissen, ob Nehammer einen neuerlichen generellen Lockdown nach Weihnachten ausschließen könne. Das wollte er wohlweislich nicht und sagte: "Der dritte Stich ist ganz entscheidend." Wolf trocken: "Wir wissen das." Nehammer: "Ich bin ein Lernender, aber wir müssen einander noch kennenlernen in dieser Funktion."

Nach 20 Minuten Themenwechsel: zur ÖVP, es gibt angenehmere Themen für den Interviewten, aber Nehammer kam sichtlich gut vorbereitet zum Gespräch in den Marmor-Ecksalon. Die Frage, wer ihn eigentlich zum Kanzler gewählt habe, parierte er locker mit Verweis auf verfassungsrechtliche Abläufe und seine parlamentarische Verankerung als Abgeordneter. Die Koalition mit den Grünen laufe auch gut, man habe ein "sehr gutes und klares Arbeitsverhältnis – und wir mögen uns auch". Aber die Menschen da draußen interessierten in Wirklichkeit ganz andere Dinge – ihr Arbeitsplatz, was ist mit den Kindern etc. – und nicht, wer gerade Kanzler sei, sagte Nehammer.

Seinen Nachfolger im Innenministerium, Gerhard Karner, habe er nicht geholt, weil der Job wie eine "Erbpacht des ÖAAB und der ÖVP Niederösterreich" anmute, so eine Frage von Corinna Milborn, sondern weil er ihn schon lange kenne und wisse, dass er diesem "höchst fordernden, einem der intensivsten Ressorts" gewachsen sei: "Daher war die Entscheidung für mich klar."

Dollfuß? War ein Austrofaschist

An diesem Punkt, es waren 24 Minuten Gespräch absolviert, wusste Nehammer, was kommen würde: Karner, Texingtal, Dollfuß-Museum. Karner war dort Bürgermeister, allerdings erst Jahre nach der Eröffnung im Jahr 1998. Wolf fragte Nehammer also: "Warum tun Sie sich so schwer, das Dollfuß-Regime Austrofaschismus zu nennen?"

Tue ich doch gar nicht, kam als Antwort. Nehammer wörtlich: "In dem Kontext tu ich mir gar nicht schwer, weil das Thema Austromarxismus und Austrofaschismus aus meiner Sicht in der Dimension dem, was in den 30er-Jahren passiert ist, gerecht wird." Die damals passierten "Justizmorde" seien "unerträglich" gewesen, sagte Nehammer, betonte allerdings auch, dass just in dem Zimmer, in dem man an diesem Abend saß, Engelbert Dollfuß in der Ecke, in die er jetzt blicken könne, zweimal in den Hals getroffen wurde und verblutet sei, weil ihm ärztliche Hilfe verweigert worden sei. Nehammers Schlussfolgerung aus diesen historischen Ereignissen: "Die Republik, die Demokratie ist stärker als jede Form der Diktatur." Und das Kanzleramt, nicht nur der Marmor-Ecksalon, seien die besten Zeugen dafür, weil in jeder Ecke demokratische Zeichen dafür zu finden seien, wie die "Republik aus den Trümmern gehoben wurde: Das ist ein Symbol des Triumphs der Demokratie über die Diktatur." Nehammer scheute sich also nicht zu sagen: "Dollfuß war Austrofaschist. Im Kontext der Zeit ... ja." Zu diesem Kontext gehöre auch der Austromarxismus. "Die Gesellschaft war zerrüttet, die Gewaltbereitschaft war verheerend." Also Auftrag: Lernen aus der Geschichte.

Unschuld ist mehr als eine rhetorische Kategorie

Blieb noch das Thema "Die ÖVP als Beschuldigte der WKStA": "Natürlich nicht angenehm", sagte der neue ÖVP-Chef zu seiner parteiinternen Baustelle. Allerdings erinnerte Nehammer daran: "In Österreich bist du dann schuldig, wenn ein unabhängiges und weisungsfreies Gericht sagt, ob du schuldig bist oder nicht. Und so lange bist du unschuldig." Für ihn als Parteichef sei "Transparenz sowieso oberstes Gebot".

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) will er nicht vorverurteilt sehen wegen seiner Vorsitzführung im Untersuchungsausschuss; wenn er wieder den Vorsitz führen wolle, sei das "legitim und richtig".

Ausgehend von den mutmaßlich manipulierten Umfragen durch das Umfeld seines Vorgängers an der Parteispitze, Sebastian Kurz, leitet Nehammer ab, dass es notwendig sein werde, das Thema Inserate und Medienförderung neu zu regeln und neu aufzustellen, damit nachvollziehbar sei, wer wann wo und warum inseriere. Es gebe dabei "eine fachliche und eine inhaltliche Dimension".

Viel Arbeit also für die türkis-grüne Koalition, aber Nehammer ist da sehr optimistisch: "ich bin zuversichtlich, dass unsere Koalition noch hält." Selbst wenn er und die ÖVP der Meinung sind, dass keine afghanischen Flüchtlinge mehr aufgenommen werden sollen.

Dann waren knapp 38 Minuten vergangen – und das als großes TV-Event inszenierte erste Kanzlerinterview mit Karl Nehammer war zu Ende.

Zuerst durfte die "Ö3-Gemeinde" fragen

Das allererste Interview in seiner neuen Rolle als Bundeskanzler der Republik hatte Nehammer übrigens an Tag fünf nach der Angelobung der "Ö3-Gemeinde" gegeben. Neben naheliegenden Fragen nach der Impfpflicht und Impfangst sowie der Aufwertung des Pflegeberufs und der Spaltung der Gesellschaft hatte "Ö3-Wecker"-Moderator Robert Kratky auch die Rubrik "Entweder-oder" im Programm.

Genretypisch eine journalistische Hoffnungskategorie, um vielleicht überraschende Antworten zu lukrieren, wenngleich sich Politikerinnen und Politiker mit dem erwünschten Minimalismus beim Antworten traditionell eher schwer tun. Und so konterte Nehammer, der vor seiner politischen Karriere als Trainer für strategische Kommunikation und Rhetorik auch im politischen oder politiknahen Bereich tätig war, Kratkys Einleitungssatz "Da reicht jetzt wirklich eine knappe Antwort" so: "Kommt immer auf die Frage an."

Hoffnungskategorie Entweder-oder

Dass der neue Kanzler, wenn er die Wahl zwischen "Online shoppen oder Lockdown abwarten" hat, natürlich das "Oder" wählen muss, ist klar. Ebenso wie die Wahl zwischen "Wehrpflicht oder Berufsheer" für einen Infanterie- und Informationsoffizier des Bundesheers, der Nehammer ist. Serienmäßig entschied sich Nehammer gegen Spanien und für Österreich, "Soko Donau" zog er "Haus des Geldes" vor. Was Kratky zur Reaktion "Warum wundert mich das jetzt nicht?" veranlasste.

Dann noch zwei Alltagsentscheidungen: "Nass rasieren oder trocken?" beantwortete Nehammer mit "trocken". Der Ö3-Morgenmann riet ihm: "Hm, Sie sollten einmal nass probieren." Und die Alternative "Weniger Fleisch essen oder weniger fliegen" wurde zuerst mit einem Kanzlerlachen quittiert, gefolgt von einer kurzen Hm-Nachdenkpause, um mit "weniger fliegen" entschieden zu werden.

Blieb noch eine – das innerparteilich nicht ganz undiffizile Macht-Mobile der ÖVP anvisierende – Entweder-oder-Konstellation, nämlich "Wien oder St. Pölten?". Nehammer ohne diplomatische Nachdenkpause: "Wien." Kratky: "Sicher?" Nehammer lachend: "Ganz sicher." Wäre das also auch geklärt. (Lisa Nimmervoll, 13.12.2021)