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Der britische Premier Boris Johnson steht innenpolitisch schwer unter Druck.

Foto: Kirsty O'Connor, Pool via AP

Schürt Boris Johnson die Angst vor der Omikron-Welle, um von Skandalen seiner Regierung abzulenken? Mindestens indirekt formulieren nicht nur Opposition und Medien diese Frage an den britischen Premier, sondern auch eine Gruppe der konservativen Parlamentsfraktion. Bis zu 70 Abgeordnete wollen ihrem Parteichef am Dienstag die Gefolgschaft verweigern, wenn es um neue Corona-Einschränkungen geht. Über die Köpfe der Rebellen hinweg appellierte Johnson per TV an die Bevölkerung: "Lassen Sie sich boosten!" Bis Jahresende soll erwachsenen Britinnen und Briten das Angebot für die Auffrischung gemacht werden.

Eindringlich beschrieb der grau und erschöpft wirkende Premier das Fortschreiten der Omikron-Variante. Deshalb dürfen von dieser Woche an nicht nur wie geplant über 30-Jährige ihren Booster buchen, sondern alle Erwachsenen. Das Nationale Gesundheitssystem NHS stellt die Aufgabe vor ein schier unlösbares Problem: Um wirklich alle einzubeziehen, müssten täglich 1,1 Millionen Dosen verabreicht werden. Selbst zur besten Zeit der ursprünglichen Impfkampagne lag die Rekordmarke bei nur 844.000.

Johnson in der Krise

Ob die Sorge um das Weihnachtsfest die Öffentlichkeit von Johnsons Turbulenzen ablenkt? Unsaubere Geldgeschäfte bei der Renovierung seiner Dienstwohnung in der Downing Street, Enthüllungen über Weihnachtspartys diverser Ministerien im Lockdown, eine Rebellion in Kabinett und Fraktion gegen neue Corona-Einschränkungen – der Johnson steckt in schweren Turbulenzen. Nun legt ein am Sonntag veröffentlichtes Foto nahe, was bisher noch niemand behauptet hatte: Der Chef selbst soll gegen Corona-Maßnahmen seiner Regierung verstoßen haben.

Der "Sunday Mirror" druckte das Dokument auf seiner Titelseite: Johnson im korrekten Anzug mit Krawatte wird dabei von zwei Mitarbeitern flankiert, deren Kleidung auf legeren Zeitvertreib schließen lässt. Es habe sich um ein Weihnachtsquiz gehandelt, bei dem in der Regierungszentrale reichlich Schaumwein geflossen sein soll, behauptete das Boulevardblatt, das traditionell der oppositionellen Labour Party nahesteht. Gar nicht wahr, teilte später Bildungsminister Nahim Zahawi mit: Johnson habe keinerlei Alkohol konsumiert, auch nur zehn bis 15 Minuten an der überwiegend online durchgeführten Feier teilgenommen: "Er wollte sich bei seinen Mitarbeitern bedanken." Johnson selbst sagte am Montag auf Reporterfrage: "Ich habe definitiv keine Regeln gebrochen."

Jeden Tag ein neuer Vorwurf

Freilich hat die Glaubwürdigkeit solcher Dementis in den vergangenen Tagen schweren Schaden genommen. Praktisch jeden Tag kommt ein neuer Vorwurf hinzu, und alle laufen auf das Gleiche hinaus: Während sich das Land im Advent 2020 nach und nach mit harten Kontaktbeschränkungen, zuletzt sogar mit einem erneuten Lockdown, abfinden musste, steppte in den Ministerien der Bär. Beamte im Bildungs- und Finanzministerium, mehrfach die Mitarbeiter der Downing Street – sie alle sollen "die Öffentlichkeit zum Narren gehalten" haben, wie es Labour-Chef Keir Starmer empört formuliert.

Beim "Mirror"-Foto hingegen agiert der Oppositionsführer vorsichtiger als die Vertreter kleinerer Parteien, die am Sonntag unisono Johnsons Rücktritt forderten: Es "habe den Anschein", so der frühere Leiter der Staatsanwaltschaft, als stelle die Teilnahme seines Kontrahenten an der Feier einen Rechtsbruch dar. Offenbar will Starmer sein Pulver trocken halten für den letzten Schlagabtausch bei der Fragestunde des Premierministers am Mittwoch.

Zuvor muss sich Johnson am Dienstag gefährlicherer Feinde erwehren: Mehr als 60 Konservative wollen ihrem Chef die Gefolgschaft verweigern, wenn das Unterhaus über die neuesten Corona-Einschränkungen berät. Dabei fallen diese gegenüber vielen Ländern auf dem Kontinent sehr mild aus. Arbeitnehmer sollen so weit wie möglich von daheim aus arbeiten, das Tragen von Mund-Nasen-Schutz wird in öffentlichen Verkehrsmitteln und Geschäften wieder verbindlich. Erstmals ist auch von Impfnachweisen zum Betreten von Massenveranstaltungen die Rede. Am Wochenende waren Geschäfte, Fußballstadien und Konzertsäle gesteckt voll wie in jeder normalen Vorweihnachtszeit.

Labour signalisiert Zustimmung

Die Abstimmung im Unterhaus wird Johnson allen Rebellen zum Trotz schon deshalb gewinnen, weil Labour aus staatspolitischer Verantwortung die Zustimmung signalisiert hat. Schwieriger dürften die Termine mit dem höchsten Beamten des Landes sowie Johnsons Ethikberater werden. Simon Case untersucht – peinlich genug – die Partys der vergangenen Adventzeit. Lord Christopher Geidt aber will Johnson zur Rede stellen, weil dessen Aussagen zur Finanzierung einer teuren Renovierung in der Downing Street nicht mit der Realität übereinstimmen.

Dabei müsse doch längst klar sein, glaubt der konservative "Times"-Kolumnist Matthew Parris, dass sich der Brexit-Premier die Wirklichkeit immer nur zurechtlüge: "Er kennt keine Regeln und keinen Ehrenkodex." Erstmals spiegelt sich diese Einschätzung auch in den Umfragen wider: Übers Wochenende lag Labour um bis zu acht Punkte vor der konservativen Regierungspartei. Prompt wetzen die innerparteilichen Gegner die Messer, laufen sich Finanzminister Rishi Sunak und Außenministerin Elizabeth Truss als Nachfolgekandidaten warm. Zwei Jahre nach seinem triumphalen Wahlsieg, so scheint es, geht es für Johnson ums politische Überleben. (Sebastian Borger aus London, 13.12.2021)