Valery Gergiev beschränkte sich im Konzerthaus auf die Basics.

Alexander Shapunov

Wien – Drei Wochen lang dominierte auf den hiesigen Spielplänen das Partizip Perfekt: "verschoben", "abgesagt". Im schmalen Möglichkeitsfenster zwischen der Delta- und Omikron-Variante startete das Wiener Konzerthaus am Sonntag aber gleich voll durch: Im Großen Saal traten mittags und nachmittags die Wiener Symphoniker auf, und am Abend eröffnete das Mariinsky-Orchester ein dreitägiges Gastspiel, das ganz im Zeichen von Dmitri Schostakowitsch steht.

Dessen erste Symphonie enttäuschte aber erst einmal. Dirigent Valery Gergiev beschränkte sich bei dieser umfangreichen, erstklassigen Diplomarbeit eines frühreifen Teenagers auf die Basics, fixierte die Partitur und schlug den Takt. Neben der Koordinationspflicht kam die Kür der Interpretation der emotionalen Erfüllung beim Langzeitchef des Orchesters zu kurz. Der traditionsreiche Klangkörper aus Sankt Petersburg musizierte pauschal, harmlos, mittelmäßig.

Possenreißer, Poet, Profitänzer

Eine Mischung aus Possenreißer, Poet, Profitänzer und Präzisionswaffe dann Denis Matsuev. Ob der fantastische russische Pianist mit den endlosen Oktavparallelen in Schostakowitschs zweitem Klavierkonzert nicht fast etwas unterfordert war? Im Andante machte der pickelhart auf Durchschlagskraft intonierte Steinway einen ramponierten Eindruck, Folge der Dezibelschlachten des Kopfsatzes. Genial die Zugabe, Anatol Liadovs Die Spieldose.

Über Schostakowitsch schwebte zeit seines Komponistenlebens das Damoklesschwert der politischen motivierten Musikkritik; mit Stalin ließ sich in Sachen Dissonanzen nicht spaßen. Schostakowitschs erst ein Vierteljahrhundert nach ihrer Entstehung uraufgeführte vierte Symphonie wäre anno 1936 wahrscheinlich auch eine Überforderung gewesen.

Keine Überforderung war für die Streicher das irre Fugato der Orchesterliteratur, wenn sich auch Konzertmeister Lorenz Nasturica-Herschcowici – der als eine Leihgabe von den Münchner Philharmonikern im Einsatz war? – danach den Bogenarm ausschütteln musste. Begeisterung war auch für das felsenfeste Blech und das Schlagwerk zu verzeichnen, die die Kraft einer anrückenden Militärmacht anklingen ließen. (Stefan Ender,14.12.2021)