Wolfgang Tillmans vor dem titelgebenden Bild der Ausstellung: "Schall ist flüssig".

Foto: APA/frischmuth

Sein wohl bekanntestes Bild hängt unscheinbar in einer Ecke. Mit Tixo ist es an die Wand geklebt, ein Rahmen fehlt. Lutz und Alex sitting in the trees heißt die Aufnahme und zeigt zwei ansonsten nackte junge Menschen in Oversize-Mänteln auf Baumästen sitzend. 1992 ist das Bild entstanden, zu Anfang jenes Jahrzehnts also, dessen Clubkultur Wolfgang Tillmans festgehalten hat.

Mit den Bildern ekstatischer Körper in Technoclubs, von Bier, Schweiß und Achselhaaren hat der deutsche Fotograf damals in Magazinen wie dem Londoner i-D oder dem Kölner Spex eine Ästhetik definiert, die ihn für Modeshootings in Avantgardemagazinen genauso qualifizierte wie für Anzeigenkampagnen ambitionierter Marken.

Mit Bildern aus der Clubkultur wurde Wolfgang Tillmans in den 1990ern bekannt.
Foto:Wolfgang Tillmans / Courtesy of Galerie Buchholz, Maureen Paley, London, David Zwirner, New York

Das Label, das Tillmans verpasst bekam, war das eines Chronisten: von Subkulturen wie der Rave- oder der Schwulenszene. Was dabei unter den Tisch gekehrt wurde, war der Inszenierungswille und die Perfektionswut, die den 1968 in Remscheid geborenen deutschen Fotografen schon damals und später noch viel stärker auszeichnete. Zwei Nackte sitzen nicht in einem Baum (einer ist der später bekannt gewordene Modedesigner Lutz), man setzt sie dorthin.

Wie präzise die Zufallsästhetik Tillmans ist, das lässt sich jetzt endlich auch in Österreich in einer großen Ausstellung im Wiener Mumok studieren. Jahre-, ja jahrzehntelang hatten die heimischen Institutionen diesen wichtigen Gegenwartsfotografen links liegen gelassen und das trotz Turner-Preis oder Ausstellungen in der Tate Modern oder im New Yorker MoMA. Mit Schall ist flüssig macht die von Matthias Michalka kuratierte Schau jetzt einiges wett.

Prasselnder Regen

Das gleichnamige Bild hängt unweit des eingangs beschriebenen Baumbilds und zeigt eine überdimensionale Waldansicht mit vorgelagertem Fels. Aus der Ferne ist das 2021 entstandene Foto eine schön komponierte Landschaftsaufnahme, aus der Nähe aber sieht man tausende herabprasselnde Regentropfen und muss sofort an den ohrenbetäubenden Lärm denken, den dieser Regenguss im Dschungel Kolumbiens verursacht haben muss. Nähe und Distanz, das Spiel mit Dimensionen und Ausschnitten, mit Zeigen und Aussparen, gedruckt auf Hochglanz oder frisch aus dem Laserdrucker: Man könnte Tillmans trotz seines ephemeren Blicks einen Strukturalisten der Fotokunst nennen. Das zeigt sich vor allem, wenn es um die Bezüge zwischen seinen Fotos geht, um die Korrespondenzen, was Materialitäten oder Signifikanten anbelangt. So hängt das Bild eines auf dem Boden liegenden Baums mit dem Namen Heath Fuck Tree neben einem Bubennacken, auf dem sich lasziv jedes Haar kräuselt.

Groß neben klein, gerahmt oder einfach mit Tixo befestigt: Tillmans Ausstellung im Mumok.
Foto: APA/Frischmuth

Der Witz der Hängung erschließt sich, wenn man weiß, dass der Baum in einer Londoner Cruising-Area liegt. Im Wiener Mumok ist dieses wilde Spiel mit Wertigkeiten und Bedeutungsebenen besonders schön gelungen, ob es nun das Cover von Frank Oceans Album Blonde ist, das als auseinandergefaltetes Poster neben Porträts Unbekannter hängt, oder ein monochromer Abzug aus der Silver-Serie neben der Fotokopie eines Felsenspringers.

Sternenobsession

Im Entree der Schau wird man von einem blau schimmernden Schattenbild von Tillmans selbst empfangen. Zu dessen Eigenheiten gehört es, dass er sich selbst, seine Obsessionen (Sternenbilder!) und seine politischen Positionen (Anti-Brexit-Kampagne, Moria-Engagement) gerne kenntlich macht.

Diese Offenlegung macht auch vor dem fotografischen Prozess nicht halt: Jahrelang beschäftigte sich der Fotograf mit den chemischen Reaktionen der Fotokunst. Neben besagter Silver- ist die Freischwimmer-Serie davon beredter Ausdruck. Zwei Exemplare derselben schmückten übrigens lange das Berliner Berghain: Der abstrakte Tillmans vermählte sich in diesem berüchtigten Club also sozusagen mit dem Musik- und Clubbesessenen.

Eines von Tillmans Freischwimmer-Bildern.
Foto:Wolfgang Tillmans / Courtesy of Galerie Buchholz, Maureen Paley, London, David Zwirner, New York

Apropos Musik: Im Koordinatensystem Tillmans nimmt sie eine übergeordnete Position ein. Steigt man in das Kellergeschoß des Mumok hinunter, dann empfängt einen dort eine Konzertstrecke aus der Tate Modern, während im angrenzenden Kino das erste, gerade erschienene Album Tillmans' zu einem XXL-Musikvideo läuft. Schauspieler Franz Rogowski ist darin als Bauarbeiter zu erleben. Noch ein Höhepunkt in dieser an Höhepunkten reichen Schau. (Stephan Hilpold, 13.12.2021)