Martin Polaschek will sich als Bildungsminister für Chancengerechtigkeit vom Kindergarten bis zur Hochschule einsetzen. Das sei sicher einer seiner Schwerpunkte.

Foto: Heribert Corn

Kaum jemand hatte erwartet, dass im Zuge der Neusortierung des ÖVP-Regierungsteams unter Bundeskanzler Karl Nehammer auch das Bildungsressort neu besetzt werden könnte. Wurde es aber: Nicht mehr Heinz Faßmann, sondern Martin Polaschek ist jetzt für Bildung, Wissenschaft und Forschung zuständig – nicht nur in der Pandemie ein zentrales Ressort. Im Antrittsinterview mit dem STANDARD geht es um Schulen und Hochschulen, Chancengerechtigkeit vom Kindergarten an, die grassierende Wissenschaftsfeindlichkeit sowie das Gefühl, als Arbeiterkind als Erster in der Familie an die Uni zu gehen. Und als Rechtshistoriker ist Polaschek natürlich auch mit dem aktuell wieder aufgeflammten Thema Dollfuß vertraut.

STANDARD: Plötzlich Minister – wie kam's dazu? Warum hat der neue Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer Sie als Bildungsminister nach Wien geholt – oder war es vielmehr andersrum, wie es heißt, dass Sie ihm von der steirischen ÖVP geschickt wurden?

Polaschek: Zweiteres würde ich ausschließen. Warum sich Bundeskanzler Nehammer für mich entschieden hat, müssen Sie ihn selber fragen, aber er hat mich gefragt und mit sehr guten Argumenten überzeugt, in die Regierung zu gehen.

STANDARD: Wie also hat er Ihnen den Seitenwechsel von der Wissenschaft und aus dem Unimanagement in die Politik schmackhaft gemacht?

Polaschek: Genau mit dieser Kombination, dass ich als Rektor ja schon Erfahrung habe im Bildungsmanagement und meine Kenntnisse jetzt in ein noch größeres Ganzes einbringen kann. Ich bin bekannt als Teamplayer, der gerne mit anderen an einer Sache arbeitet. Jetzt gäbe es die Möglichkeit, kreativ etwas Neues zu machen, und das in einer Zeit, in der die Emotionen in diesem Land eher hochgehen, und wo es vielleicht Personen braucht, die das Gemeinsame in den Vordergrund stellen. Das hat mich überzeugt.

STANDARD: Was verbindet Sie mit der ÖVP? Parteimitglied sind Sie nicht.

Polaschek: Das Thema der Parteimitgliedschaft stellt sich nicht, aber ich stehe den Werten der Volkspartei sehr nahe. Ich kenne viele Menschen aus der ÖVP schon sehr lange, so wie ich auch viele aus der SPÖ und anderen Parteien kenne, aber ich habe im ÖVP-Umfeld immer wieder auch meine wissenschaftliche Expertise, ob zeithistorisch oder in Wissenschafts- und Kommunalfragen, einbringen können. Dieser Mix hat dann letztendlich wohl den Ausschlag gegeben.

STANDARD: Wie geht es Ihnen als Wissenschafter mit der offenen Wissenschaftsfeindlichkeit, die sich nicht nur bei den Corona-Demos auf der Straße zeigt, sondern auch von politischen Parteien wie der FPÖ befeuert wird? Was läuft da falsch? Haben wir ein Bildungsproblem? Was tun?

Polaschek: Mich beschäftigt auch sehr stark, wie das in den letzten Monaten eskaliert ist, und ich werde mir das noch genauer ansehen und mit Expertinnen und Experten in den Dialog treten. Dass diese Wissenschaftsfeindlichkeit und massive Ablehnung von Fakten jetzt generell so ausbrechen, erstaunt mich auch, und wir müssen auf jeden Fall dagegen vorgehen. Es ist zum Teil ein Bildungsthema, ganz bestimmt, und ich halte es für ganz wichtig, dass man umso mehr auf Bildung setzt. Aber es ist nicht nur ein Bildungsthema. Es sind ja auch Menschen mit Studienabschlüssen, die genauso Teil dessen sind. Es wird sicher eine der ganz großen Herausforderungen, wieder für Frieden im Land zu sorgen, und ich empfinde eine Verantwortung, mich einzubringen und mein Know-how und meine Fähigkeiten in den Dienst der Republik zu stellen.

STANDARD: Akut und bis auf Weiteres gefordert sein werden Sie jedenfalls von der Pandemie. Die aktuellen Corona-Maßnahmen in den Schulen wurden bis Weihnachten verlängert. Wie sieht der Fahrplan für die Schulen nach den Weihnachtsferien, die am 10. Jänner enden, aus? Immerhin rechnen Experten damit, dass uns dann die fünfte, die Omikron-Welle trifft.

Polaschek: Ich habe bereits klargestellt, dass wir im Jänner wieder mit einer Sicherheitsphase starten. Wie sich die Infektionszahlen und die Omikron-Variante bis dahin entwickeln, wissen wir alle noch nicht. Das, was wir tun können, ist, verschiedene Szenarien durchzuspielen und dafür Pläne zu machen, zu sagen: Wenn, dann … Da gibt es sehr intensive Vorarbeiten bei uns im Haus. Es ist mein Ziel, möglichst rasch für Klarheit zu sorgen, weil die Menschen Planungssicherheit wollen, aber wir müssen uns einfach anschauen, wie sich das entwickelt.

STANDARD: Die unabhängige Lehrergewerkschaft fordert drei PCR-Tests pro Woche in allen Bundesländern. Das tut auch das Wissenschaftsgremium "Covid-19 Future Operations", das für PCR-Tests an allen Schulen und Bildungseinrichtungen ist, für "alle, die dort lernen, lehren und arbeiten", unabhängig vom Impf- oder Genesenenstatus. Schließen Sie sich dieser Forderung an? Sie sagten ja, Sie wollen wissenschaftsgeleitet agieren.

Polaschek: Die Argumente sind gut, wir bemühen uns, die Zahl der Tests zu erhöhen. Wir arbeiten daran, in den Schulen noch mehr PCR-Tests anzubieten, aber das ist eine Frage der Kapazitäten, auch in den Labors. Aber wir tun alles, um noch mehr PCR-Tests einzuführen.

STANDARD: Ich frage Sie nicht, ob Sie eine erneute Schließung der Schulen, etwa wegen Omikron, ausschließen, das kann und sollte man, zumal in Pandemiezeiten, besser nicht. Aber mit welchen Argumenten werden Sie sich in der Regierung dafür starkmachen, dass die Schulen nach Möglichkeit offen bleiben? Die vielfältigen Schäden durch Schulschließungen sind ja hinlänglich bekannt.

Polaschek: Die Schulen sind durch die zahlreichen Testungen und Vorsichtsmaßnahmen vor Ort ein im Vergleich einigermaßen sicherer Ort. Die Zahlen zeigen, dass die Erkrankungen in den Schulen deutlich zurückgegangen sind, und ich halte es für ganz wichtig, dass gerade die Kinder in den Schulen unterrichtet werden. Das Distance-Learning hat sich in einigen Bereichen gut etabliert, aber gerade jüngeren Kindern im Volksschulbereich und in der Sekundarstufe I kann man im Distanzmodus einfach nicht die Grundkompetenzen und -fähigkeiten vermitteln. Deshalb ist es ganz wichtig, dass gerade diese Gruppen wieder in die Schulen kommen können, nicht nur wegen des Unterrichts, sondern auch weil ich glaube, dass gerade Kinder den persönlichen Kontakt mit ihren Mitschülern und Lehrern brauchen. Darum sehe ich es als meine Verantwortung und ist es mein Ziel, dafür zu sorgen, dass wir den Kindern so viel wie möglich an Präsenzunterricht bieten können.

STANDARD: In einem Forderungskatalog der ÖH an Sie verlangen die Studierenden "offene Hochschulen mit hybridem Lehrbetrieb". Ist es für Sie denkbar, dass das generell ein Zukunftsmodell werden kann? Funktioniert "Universität", also das klassische Humboldt’sche Ideal der Einheit von Forschung und Lehre, von Lehrenden und Lernenden, "auf Distanz" oder ist sie doch etwas genuin anderes?

Polaschek: Der deutsche Soziologe Rudolf Stichweh hat gesagt: "Universität ist eine Anwesenheitsinstitution." Das ist für mich auch ein ganz wichtiges Element. Universität braucht Anwesenheit. Ich denke, wir werden punktuell, auch im Sinne von Service, weiter auf hybride Formen zurückgreifen. Das soll aber nicht die Regel werden. Hochschulen sind Orte, an denen im Grunde genommen der Diskurs vor Ort stattfindet. Sie leben von der persönlichen Auseinandersetzung. Darum bin ich so wie im Schulbereich sehr stark für so viel Präsenz wie möglich, aber natürlich mit einer digitalen Anreicherung. Gerade Menschen, für die es vielleicht nicht so einfach ist, an eine Universität oder eine andere Bildungseinrichtung zu kommen, können wir so ermöglichen, an höherer Bildung teilzuhaben.

STANDARD: Ist es fair, von den Studierenden, die in der Pandemie große Abstriche beim Studium machen mussten, selbst wenn sie ihre Prüfungen ablegen konnten, dennoch die volle Studiengebühr zu verlangen? Das Prinzip "Koste es, was es wolle" hat für sie offenkundig nicht gegolten. Dabei haben auch da viele ihre Nebenjobs verloren und bekommen nichts …

Polaschek: Das ist eine Suggestivfrage. Ich frage zurück: Finden Sie das fair, Studierende gegen andere Menschen auszuspielen, die den Job verloren haben? Fakt ist, dass die Hochschulen binnen kürzester Zeit ein Präsenzsystem auf Fernlehre umstellen mussten. Das hat in einigen Bereichen besser, in anderen nicht so gut funktioniert. Man hat sich jedenfalls bemüht, möglichst rasch ein dementsprechendes Lehrangebot für die Studierenden auf die Beine zu stellen. Die Unis haben dort, wo sie nicht offen bleiben konnten, blitzartig begonnen, Bücher und Artikel zu scannen. Wir haben alleine an der Uni Graz hunderttausende gescannte Seiten per E-Mail an Studierwillige verschickt, damit alle zu ihrer Literatur kommen. Alle Bildungseinrichtungen haben sehr viel Geld für Online-Literatur und so weiter ausgegeben. Da ist extrem viel passiert. Zugleich ist die Prüfungsaktivität deutlich gestiegen. Die Studierenden hatten also zum Teil auch mehr Zeit fürs Studium. Dass es Menschen gab, die ihre Nebenjobs nicht machen konnten, ist sicher schlimm, aber ich tue mir schwer zu sagen, warum man das einem Studierenden abgilt und einem Lehrling nicht. Aber natürlich müssen wir schauen, dass es bestmögliche Studienbedingungen und Studienförderprogramme gibt. Das gehört immer wieder überarbeitet und wird etwas sein, das wir uns aktiv gemeinsam anschauen werden.

STANDARD: Es ist ein altes, verhärtetes hochschulpolitisches Thema: Kinder aus Arbeiterfamilien oder mit Eltern, die nur einen Pflichtschulabschluss haben, sind an den österreichischen Universitäten noch immer stark unterrepräsentiert. Ähnliches gilt für Kinder mit Migrationshintergrund. Sie sind selbst ein Arbeiterkind. Was wollen Sie als Minister dagegen tun?

Polaschek: Schauen Sie mal auf die Homepage der Uni Graz. Wir haben auf meine Initiative hin ein Peer-Mentoring-Projekt gestartet für die, die als Erste aus einer Familie an die Uni gehen und beziehungsweise oder Migrationshintergrund haben. Es ist den "First Generation Students" gewidmet. Solche Initiativen gibt es auch an anderen Unis. Das Thema ist mittlerweile bei den Unis angekommen, denke ich. Aber Chancengerechtigkeit, sodass alle an Bildung teilhaben können – das geht von der Elementarpädagogik bis zum Hochschulbereich –, sehe ich sicher als einen meiner Schwerpunkte auf allen Ebenen des Bildungssystems.

STANDARD: Kennen Sie das Fremdheitsgefühl an der Uni, das viele Kinder aus Arbeiterfamilien beschreiben?

Polaschek: Zu Beginn ja, aber es hängt auch viel vom Umfeld ab. Ich habe rasch Freunde gefunden, die in einer ähnlichen Situation waren wie ich, aber auch Freunde aus Akademikerfamilien. Es hängt natürlich auch viel von einem selber ab. Ein wichtiger Punkt ist: Ich habe gesehen, dass meine Eltern hinter mir stehen. Sie haben mir immer vermittelt, Bildung ist das höchste Gut, und waren wahnsinnig stolz, dass ich an die Uni gegangen bin. Und wenn ich am Wochenende heimgekommen bin und gesagt habe, ich muss noch lernen, haben sie mich verstanden und in Ruhe gelassen, weil sie gemerkt haben, das ist wichtig. Im Grunde genommen studiert oder lernt ja niemand alleine. Bildung findet nicht nur vor Ort in der Schule oder Hochschule oder anderen Bildungseinrichtungen statt, sondern muss auch von der Familie und Freunden mitgetragen werden.

STANDARD: Sie sind Rechtshistoriker mit einem Schwerpunkt auf Nachkriegsjustiz, ein ausgewiesener Experte für Entnazifizierung. Anlässlich eines Museums in Engelbert Dollfuß' Geburtshaus ist erneut eine Debatte über das Verhältnis der ÖVP zu Dollfuß entstanden. Wie bezeichnen Sie das von 1933/34 bis 1938 installierte Herrschaftssystem unter ihm?

Polaschek: Da hat der Bundeskanzler am Sonntagabend beim Fernsehinterview sehr klare Worte gefunden. Denen ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Dass das ein autoritäres System und der Ständestaat ab Mai 1934 kein demokratisches System war, ist wissenschaftlich außer Zweifel. Begriffe wie Austromarxismus und Austrofaschismus sind auch sehr stark politisch belegt. Aber die Tatsache, dass Dollfuß als Bundeskanzler mit Notverordnungen regiert hat und nicht die Unterstützung durch den Nationalrat hatte, ist eine historische Evidenz. (Lisa Nimmervoll, 15.12.2021)