Leere Bühne beim Internationalen Festival für Philosophie diesen Herbst in Köln.

Foto: : imago images/Horst Galuschka

Am 18. Dezember nutzen Geschlechterforscher*innen den Hashtag #4GenderStudies, um für die wissenschaftliche Bedeutung des Feldes zu werben. Wie kaum eine andere Disziplin stehen die Gender-Studies regelmäßig unter Beschuss: Statt objektiver Wissenschaft verfolge man eine politische Agenda, rechte Akteur*innen fürchten indes Angriffe auf die bestehende Geschlechterordnung.

Auch die Debatte über eine angebliche "Cancel-Culture" an Universitäten führte zuletzt zu weiteren Angriffen auf die Geschlechterforschung.

Im Fall der britischen Philosophin Kathleen Stock ortete der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann eine "emotional aufgeladene Genderdebatte" und "wissenschaftsfeindliche Tendenzen im Innersten der Hochschulen", die er in einem Kommentar in der "Kleinen Zeitung" mit Entwicklungen in der Pandemie verglich. Stock wird Transfeindlichkeit vorgeworfen – ihren Lehrstuhl an der University of Sussex gab sie aufgrund massiver Anfeindungen auf, wie sie in Interviews berichtete.

STANDARD: Die Debatte über eine sogenannte Cancel-Culture an den Universitäten kocht immer wieder hoch: Personen mit unliebsamer Meinung würden von links attackiert, ihre Karrieren ruiniert. Ist das ein realistisches Bild?

Hoppe: Es gibt mit Sicherheit einzelne Fälle, die man diskutieren sollte. Dennoch schießt die Cancel-Culture-Debatte weit übers Ziel hinaus. Jede Rücktrittsforderung wird skandalisiert, tatsächlich passieren Rücktritte an der Universität in den seltensten Fällen. Im Grunde ist der Begriff der Cancel-Culture zu einem Kampfbegriff mutiert, der stark von rechts vereinnahmt wurde. Es geht darum, eine Bedrohung von links heraufzubeschwören, einzelne Fälle werden tendenziös überdehnt und existierende Machtverhältnisse schlicht ausgeblendet. Wenn eine schwarze Autorin, wie kürzlich Jasmina Kuhnke, ihren Besuch auf der Frankfurter Buchmesse absagt, weil sie sich von der Präsenz klar rechts positionierter Verlage bedroht fühlt, wird dies nicht als Cancel-Culture bezeichnet, sondern schlimmstenfalls als übertriebene Selbstzensur. Außerdem scheint auch niemand auf die Idee zu kommen, die Academics for Peace, die in der Türkei verfolgt und eingesperrt werden, als "gecancelt" zu bezeichnen.

STANDARD: Der Philosoph Konrad Paul Liessmann geht so weit, einen Fall vermeintlicher Cancel-Culture mit Wissenschaftsfeindlichkeit zu vergleichen, wie sie in der Pandemie passiert.

Hoppe: Pandemieleugnung und das Ringen um möglichst gute Wissensproduktion und damit auch um Wahrheit an Universitäten in einen Topf zu werfen, finde ich ein starkes Stück. Das Phänomen taucht aber immer wieder in der Debatte auf: Jede Form der wissenschaftlichen Arbeit, die Ungleichheiten thematisiert – zum Beispiel in der Geschlechterforschung oder auch der Migrationsforschung –, kann als Ideologie gebrandmarkt werden. Was Liessmann letztlich sagt: Die persönliche Betroffenheit hat gewonnen gegen die wissenschaftliche Objektivität. Ich denke, hier handelt es sich auch um einen Abwehrreflex gegen die Infragestellung von bisher sehr einflussreichen, machtvollen Positionen. Herrschaftskritischen Forschungen wird dann schlichtweg die Wissenschaftlichkeit abgesprochen.

Katharina Hoppe forscht an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Foto: Merielli Mafra

STANDARD: Der Vorwurf, Ideologie statt wissenschaftliche Wahrheiten zu produzieren, begleitet die Gender-Studies von Beginn an.

Hoppe: Ja, es ist allerdings nicht so, als würden sich die Gender-Studies nicht selbst über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik verständigen. Es gibt immer schon eine lebendige Debatte darum, wie dieses Verhältnis sinnvoll zu bestimmen ist und wie man sich methodisch ausrichtet, um gesellschaftliche Verhältnisse angemessen darzustellen. Wenn den Gender-Studies Unwissenschaftlichkeit oder ideologische Verblendung vorgeworfen wird, ist es erst einmal wichtig, darauf hinzuweisen, dass Wissenschaftskritik ein zentraler Bestandteil der Geschlechterforschung ist. Sie hat nichts mit Wissenschaftsfeindlichkeit zu tun, vielmehr hat Wissenschaftskritik in der Philosophie und in den Sozialwissenschaften insgesamt einen hohen Stellenwert. Wir stellen ja immer schon die Frage, was wir überhaupt erkennen können. Wo liegen die Voraussetzungen, die Begrenzungen und Möglichkeiten unseres Erkennens? Historisch betrachtet waren nicht alle Subjektpositionen gleichermaßen an der Wissensproduktion beteiligt. Die feministische und postkoloniale Wissenschaftsforschung hat gezeigt, dass sowohl Frauen als auch rassifizierte Personen lange von der wissenschaftlichen Wissensproduktion ausgeschlossen waren, weil ihnen Spezialinteressen zugeschrieben wurden, die nicht der Allgemeinheit dienen könnten.

STANDARD: Es geht also um Machtverhältnisse in der Forschung?

Hoppe: Forschung passiert nie losgelöst von sozialen Machtverhältnissen und auch nicht von Geschlechterverhältnissen. Jede Wissenschaft ist in historisches Geschehen involviert – und damit auch in irgendeiner Weise positioniert. Eine der wichtigsten politischen Positionen war immer schon die Pose der Neutralität: eine Maske, die behauptet, man hätte mit dem Geschehen rundherum nichts zu tun, man könnte die Welt objektivieren, ohne selbst darin vorzukommen. Die Frage dabei ist, wer eine solche Neutralität behaupten kann – und da ist feministische Kritik ganz zentral. Auch Liessmann fordert ja eine rationale Wissensproduktion in der Tradition der Aufklärung, die keinen Ort, keine Zeit und keinen Körper kennt. Hier werden marginalisierte Perspektiven zu moralischen oder ideologischen Perspektiven, denn sie können es sich nicht leisten, keine Position zu haben, werden als 'gebiast' markiert und ausgeschlossen. Die feministische Wissenschaftskritik legt den Finger in die Wunde – und das tut weh. Denn sie stellt damit die Neutralitätsbehauptung vieler etablierter Professor*innen infrage.

STANDARD: Sie fordern gemeinsam mit Kolleg*innen ein emanzipatorisches Verständnis von Wissenschaftsfreiheit ein – was ist damit gemeint?

Hoppe: Mit einer emanzipatorischen Idee von Wissenschaftsfreiheit wollen wir den Blick stärker auf strukturelle Machtverhältnisse lenken. Die Debatte um Cancel-Culture verkennt, wie die Institution Universität funktioniert. Universitäten sind stark hierarchisch organisiert, das heißt, viele marginalisierte Stimmen finden nach wie vor keinen Eingang in die wissenschaftliche Debatte. Diesen Ausschlüssen versuchen wir uns zu stellen und ihnen entgegenzutreten, wo es möglich und nötig ist. Es geht also darum, sie auch zum Gegenstand der Forschung zu machen, aber auch die Ansprüche auf Partizipation und Repräsentation marginalisierter Gruppen zu verteidigen. Das halte ich für besonders wichtig. Möglichst viele Perspektiven einzubeziehen kann zu einer besseren Darstellung der Welt beitragen – und damit auch zu einer robusteren Objektivität. (Brigitte Theißl, 16.12.2021)