In Tschechien sind Impfungen gegen neun Kinderkrankheiten verpflichtend.

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Als Pavel Vavricka im Dezember 2003 eine Verwaltungsstrafe über 3.500 Tschechische Kronen zahlen sollte, ahnte er wohl kaum, dass das Verfahren gegen ihn ein wegweisendes Urteil auslösen wird.

Vavricka hatte sich entgegen der staatlichen Pflicht geweigert, seine beiden Kinder gegen Kinderlähmung, Hepatitis B und Tetanus zu impfen. Auch die Geldstrafe, umgerechnet rund 140 Euro, wollte der Tscheche nicht bezahlen. Die Impfpflicht sei ein unzulässiger Eingriff in Grundrechte. Vavricka beschwerte sich und durchlief den Instanzenzug bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).

Zur rechten Zeit?

Knapp 18 Jahre später ist der Fall nun endgültig geklärt – und das scheinbar gerade zur rechten Zeit. Im April dieses Jahres wiesen die Straßburger Richter die Beschwerde Vavrickas und fünf weiterer Impfgegner ab.

In Tschechien sind Impfungen gegen neun Kinderkrankheiten verpflichtend. Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen, drohen Geldstrafen. Um andere Kinder zu schützen, dürfen Kindergärten zudem nur Kinder aufnehmen, die entweder geimpft sind oder sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können.

Aus Sicht des EGMR ist das zulässig: Eine verpflichtende Impfung greift als "unfreiwilliger medizinischer Eingriff" zwar in Grundrechte ein, die Impfpflicht ist aufgrund der Ziele, die Tschechien damit verfolgt, aber verhältnismäßig. Der Schutz vor ernsthaften Erkrankungen rechtfertigt den Eingriff.

Andere Gruppe, andere Impfungen

Seit der Ankündigung Österreichs, eine allgemeine Impfpflicht für Covid-19 einzuführen, wird das Urteil des EGMR regelmäßig zitiert – zuletzt etwa von Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) bei der Präsentation des Gesetzesentwurfs. Aber lässt sich die tschechische Impfpflicht für Kinder wirklich auf die aktuelle Situation in Österreich übertragen?

"Nur bedingt", sagt Ralph Janik, Völkerrechtler und Universitätslektor in Wien und Budapest. Die tschechische Regelung könne man nur schwer mit der aktuellen Situation in Österreich vergleichen. In Tschechien gilt die Impfpflicht nur für Kinder, die Strafen sind moderat. Ob die österreichische Regelung vor dem Verfassungsgerichtshof oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestehen wird, hängt aber vor allem davon ab, wie hoch und sachgerecht die Strafen in der Praxis ausfallen werden. "Der Gerichtshof entscheidet eben immer von Fall zu Fall", erklärt Janik.

Dazu kommt, dass der EGMR an mehreren Stellen seiner Entscheidung betont, dass die Krankheiten, gegen die sich tschechische Kinder impfen müssen, "well known to medical science" sind – also sehr gut erforscht. Laut Janik habe der Gerichtshof geahnt, dass das Urteil in der Debatte um eine Covid-Impfpflicht eine zentrale Rolle spielen wird und sich ein juristisches Türchen offen gelassen. "Wir wissen nicht, wie der Gerichtshof Covid-19 und die Impfstoffe einstuft, zumal sich die Lage wegen der Mutationen fortwährend ändert. "Das sind aber die Schlüsselfragen."

Grundsatzfrage beantwortet

In der Grundsatzfrage, ob eine Impfpflicht überhaupt zulässig ist, hat sich der Gerichtshof jedenfalls festgelegt. Das ist auch unter österreichischen Verfassungsjuristen weitgehend unumstritten. Und bestimmte Leitlinien lassen sich sehr wohl aus dem Urteil des EGMR ableiten, sagt Valerie Mayer, Rechtsanwältin für Verwaltungsrecht. Grundlegend sei, dass die Mitgliedstaaten in Sachen Impfpflicht einen weiten Ermessensspielraum haben. "Das stellt der Gerichtshof explizit klar", sagt Mayer. Auch die Gründe für die Impfpflicht, vor allem der Schutz der Allgemeinheit, lassen sich auf die aktuelle Situation übertragen.

Zwar sei nach wie vor fraglich, ob die Impfung Herdenimmunität herstellen kann, der Schutz vor schweren Verläufen, die Überlastung der Intensivstationen sowie die durch die Lockdowns einhergehenden persönlichen Einschränkungen und negativen wirtschaftlichen Auswirkungen sind laut Mayer jedoch gewichtige Gründe, die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen zum Schutz aller einzuschränken. Dazu kommt, dass Impfungen per se vom EGMR nicht infrage gestellt werden. "Er erachtet Impfungen als ein sehr effektives und sicheres Mittel zur Eindämmung schwerer Krankheiten", sagt die Rechtsanwältin.

Beschränkungen für Ungeimpfte

Mayer weist auch auf eine Frage hin, die im Urteil des EGMR behandelt wurde, bisher in der Diskussion aber kaum eine Rolle spielte. Neben Geldstrafen für die Eltern wird in Tschechien ungeimpften Kindern der Besuch des Kindergartens verwehrt. Es gilt also eine 2G-Pflicht.

Auch diese Maßnahme ist aus Sicht des EGMR gerechtfertigt – und das, obwohl gerade die Kindergartenzeit für Kinder besonders prägend ist. Inwieweit Zutrittsbeschränkungen oder gar ein weitgehender Lockdown für Ungeimpfte trotz Impfpflicht auf Dauer vorgesehen und aufrechterhalten werden können, müsse man laut Mayer laufend evaluieren.

Zuzana Candigliota, die Pavel Vavricka vor dem EGMR vertrat, will gegen die neue Covid-19-Impfpflicht in Tschechien wieder vor Gericht ziehen. Verpflichtende Impfungen seien unzulässig, die Richter hätten es aufgrund von "ideologischen Gründen" verabsäumt, Menschenrechte zu schützen, sagt die Rechtsanwältin zum STANDARD.

Vavricka, dessen Kinder längst volljährig sind, werde nicht mehr klagen. In all den Jahren habe er seine ablehnende Einstellung zu Impfungen aber nie geändert. (Jakob Pflügl, 15.12.2021)