Bild nicht mehr verfügbar.

Separatistische Milizionäre übten am Dienstag in der selbsternannten und von Russland abhängigen "Volksrepublik Donezk" für mögliche künftige Waffengänge.

Foto: Reuters / Alexander Ermochenko

An der Rhetorik einiger mehr oder weniger direkt und indirekt beteiligter Politiker lässt sich ablesen, wie gespannt die Lage an der russisch-ukrainischen Grenze ist. Moskau habe dort zehntausende Soldaten zusammengezogen, bereite unter den Augen der Nato einen "totalen Krieg" vor, davon gibt sich Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis überzeugt.

Russlands Vizeaußenminister Sergej Rjabkow drohte gar mit der Stationierung von Atomraketen im europäischen Teil seines Landes, sollte der Westen dem Wunsch nach "Sicherheitsgarantien" nicht nachkommen. Der Truppenaufmarsch sei kein Vorzeichen einer Invasion im Nachbarland, sagt die russische Regierung. Sie will von der Nato die Garantie, dass die Ukraine nicht als Mitglied ausgenommen wird.

In deutschen Regierungskreisen hieß es am Dienstag vor den beiden EU-Gipfeln, Mittwoch zur Östlichen Partnerschaft, Donnerstag das reguläre Treffen der Staats- und Regierungschefs: Russland möge doch selbst "Transparenz schaffen", was seine Truppen an der Grenze zu suchen haben, solle klarstellen, dass es keinen Angriff auf die Ukraine geben werde, das wäre "hilfreich" zur Entspannung. Die EU-Staaten wollen ein "starkes Signal" an Präsident Wladimir Putin senden: Ende des Säbelrasselns, Rückkehr zum Friedensprozess von Minsk.

Im Falle einer militärischen Aggression werde es jedoch "schwerwiegende politische und wirtschaftliche Konsequenzen geben". Man wolle "mit Putin reden". Deutschland und Frankreich werden initiativ.

Frage: Wie ist die Ausgangslage im Ukraine-Konflikt vor dem EU-Gipfel?

Antwort: Hintergrund der angespannten Lage sind Erkenntnisse der Nato, wonach Russland massiv Truppen an der Grenze zur Ukraine stationiert. Nicht nur in Kiew fürchtet man eine militärische Invasion durch Russlands Armee. Viele fühlen sich an 2014 erinnert, als Moskau handstreichartig die – völkerrechtlich bis heute ukrainische – Schwarzmeerhalbinsel Krim besetzte. Die schiere Größe der russischen Streitmacht samt schwerem Gerät weckt Ängste, dass diesmal größere Teile der Ukraine Ziel einer russischen Aggression werden könnten. Der ukrainische Militärgeheimdienst ortete schon Ende November mindestens 94.000 russische Soldaten in der Grenzregion, die USA vermuten, dass die dort stationierten russischen Truppen rasch auf bis zu 175.000 Soldaten erweitert werden könnte. So viele Soldaten, so die Sichtweise, brauche man nur, wenn man ein Land überrennen will.

Frage: Was ist die Position Russlands zur Ukraine?

Antwort: Moskau bestreitet jede Absicht, in die Ukraine einmarschieren zu wollen – und dreht den Spieß um. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow hat am Dienstag vor einem Videogipfel zwischen Präsident Wladimir Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping vor einer weiteren Eskalation im Osten Europas gewarnt. In Moskau orte man "sehr, sehr aggressive Rhetorik" vonseiten der Nato und der USA. Man müsse sich daher mit "unserem Alliierten" in Peking über die weitere Vorgehensweise absprechen. Fest steht, dass sich Moskau vom Westen Sicherheitsgarantien erhofft. Seit dem Ende der Sowjetunion sieht sich die russische Führung einer in Richtung Osten vergrößerten Nato gegenüber. Die Beitrittsversprechen 2008 an die Ukraine und Georgien werden in Russland als Provokation verstanden. Die EU-Staaten pochen darauf, dass jeder Staat das Recht auf Selbstbestimmung habe, ein uneingeschränktes Völkerrecht. Es geht nicht nur um die Ukraine.

Vizeaußenminister Rjabkow erklärte am Montag, sein Land habe nicht das geringste Vertrauen in das westliche Militärbündnis. Russland könne sich daher schon bald gezwungen sehen, nuklear bestückte Mittelstreckenraketen des Typs 9M729 an seiner Westgrenze zu stationieren.

Die Nato wiederum will darauf ebenfalls mit weiteren Raketenbasen reagieren, die allerdings nicht mit Atomwaffen gerüstet sein sollen, sondern mit konventionellen Mittelstreckenraketen. Erinnerungen an das Wettrüsten des Kalten Krieges in Osteuropa werden wach.

Frage: Wie bereitet man sich in der Ukraine auf einen eskalierenden militärischen Konflikt vor?

Antwort: Die Regierung in Kiew hat in den vergangenen Jahren massiv in die Armee investiert – und zum Missfallen Moskaus bei westlichen Waffenschmieden eingekauft. Die Türkei, ein Nato-Mitglied, lieferte Kampfdrohnen, die USA unter anderem Panzerabwehrwaffen. Kiews Bürgermeister, der ehemalige Boxprofi Witali Klitschko, richtete am Dienstag einen dramatischen Appell an die neue deutsche Bundesregierung. Die Lage sei "sehr, sehr ernst". Als Soldat habe er einst geschworen, das Land zu verteidigen, "und ich bin auch jetzt bereit, für mein Mutterland zu kämpfen".

Seine Behörden hätten bereits die Rekrutierung und Ausbildung von Reservisten intensiviert, schrieb er in der "Bild"-Zeitung. Um sich ein genaueres Bild der Lage zu verschaffen, hat die Nato am vergangenen Wochenende erstmals seit längerem ein Aufklärungsflugzeug vom Typ RC-135W in den ukrainischen Luftraum geschickt. Mit dessen Hilfe will der Westen an Kommunikationsdaten und Radarsignale russischer Einheiten gelangen.

Frage: Was hat es mit den Sanktionen der EU gegen die russische Söldnerfirma Wagner auf sich?

Antwort: Weil finanzielle Strafmaßnahmen zu den wenigen echten Waffen im Arsenal der EU gehören, bereitet man sich in Brüssel auf diese Weise auf den Ernstfall vor. EU-Außenbeauftragter Josep Borrell wurde am Montag konkret: Man prüfe, welche Sanktionen in koordinierter Weise verhängt werden könnten und wann und wie, sagte er am Rande eines EU-Außenministertreffens in Brüssel. "Die EU ist vereint in der Unterstützung ukrainischer Souveränität und territorialer Unversehrtheit." Beim Auftaktgipfel zur Östlichen Partnerschaft der EU mit der Ukraine, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau und Belarus soll deren strategische Bedeutung bekräftigt werden, insbesondere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Belarus – früher konstruktiver Partner – bleibe ein großes Problem. Sanktionen gegen das Regime von Präsident Alexander Lukaschenko werden bekräftigt. Gewissermaßen eine Vorhut möglicher breiterer Strafmaßnahmen gegen Russland bilden die jüngsten Sanktionen, die vom EU-Außenministerrat am Montag beschlossen wurden: Sie betreffen die russische Söldnerfirma Wagner, drei mit ihr verbundene Unternehmen sowie acht Einzelpersonen, darunter Wagner-Gründer Dmitri Utkin. Sie alle sollen unter anderem in der Ukraine für Folter und Hinrichtungen verantwortlich sein – direkt oder indirekt. Die Firma wird auch mit Einsätzen in Konfliktregionen wie Syrien oder Mali in Zusammenhang gebracht. Russland verurteilte die Sanktionen am Dienstagabend als "Hysterie" und Ausdruck von "Neid einiger ehemaliger europäischer Metropolen in Bezug auf Staaten Afrikas und des Nahen Ostens." Vor der Verhängung breiter Sanktionen, die ganze Branchen betreffen und Russland schwer treffen könnten, muss die EU jedenfalls die Abhängigkeit weiter Teile Europas von russischem Erdgas bedenken.

Frage: Was darf man sich vom EU-Gipfel am Donnerstag erwarten?

Antwort: Wenig Konkretes, die Tagesordnung ist voll mit Themen: Es geht unter anderem um die aktuelle Lage der Corona-Krise und Omikron, Energiepreise, Inflation und wirtschaftliche Aussichten, das EU-Sicherheitskonzept "Strategischer Kompass" wird verabschiedet. (Florian Niederndorfer, Thomas Mayer aus Brüssel, 14.12.2021)