Ein Teil der Forschungsgruppe rund um Erstautorin Jamie Hodgkins bei der Untersuchung der Grabstätte.
Foto: Jamie Hodkins, PhD, CU Denver

In der norditalienischen Region Ligurien stieß eine internationale Forschungsgruppe auf einen besonderen Fund: In einer Höhle entdeckte sie die älteste Bestattung eines neugeborenen Mädchens, die bisher in Europa gefunden wurde. Das Kind, das den Spitznamen Neve (Schnee) erhielt, lebte vor etwa 10.000 Jahren. Neben der Leiche befanden sich Muschelperlen, Anhänger und die Kralle eines Raubvogels.

Die in der Fachzeitschrift "Scientific Reports" veröffentlichte Studie wurde unter anderem von Stefano Benazzi koordiniert, der an der Universität Bologna und am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig forscht. "Dies ist ein einzigartiger Fund, denn wir haben in Europa noch nie ein derartiges Grab gefunden", sagte der Forscher gegenüber der italienischen Nachrichtenagentur Ansa.

Zahlreiche Ornamente

Durch Protein- und DNA-Analysen wurde ermittelt, dass es sich um ein Mädchen handelte, das sogar in eine europäische genetische Verwandtschaft mit anderen Skelettfunden eingeordnet werden kann. Das Kind gehörte zu einer Gemeinschaft, die offenbar zum Nahrungserwerb auf Jagd ging. Die Leiche wurde begraben und mit dem Kopf nach Westen und den Füßen nach Osten aufgebahrt. Sie war von einer Vielzahl von Ornamenten umgeben: über 60 durchlöcherte Muschelperlen, die wahrscheinlich auf ein kleines Kleid oder ein Lederbündel genäht worden waren, vier Anhänger aus Muschelfragmenten und die Kralle eines Raubvogels.

Die Anordnung des Schmucks deutet darauf hin, dass sie womöglich auf ein Kleid genäht wurden.
Bild: Claudine Gravel-Miguel

Mehrere dieser Ornamente weisen auch Abnutzungserscheinungen auf. Dies deutet darauf hin, dass sie wohl lange Zeit von Mitgliedern der Gemeinschaft getragen wurden und erst später zur Verzierung des Kleides des neugeborenen Mädchens dienten. "Zu verstehen, wie unsere Vorfahren mit ihren Toten umgegangen sind, ist von enormer kultureller Bedeutung und ermöglicht es uns, sowohl ihre Verhaltensweisen als auch ihre ideologischen Aspekte zu untersuchen", sagt Benazzi.

Respektvolle Behandlung

Der Fund gebe dem Team die Möglichkeit, einen für die Forscher außergewöhnlichen Bestattungsritus aus der ersten Phase des Mesolithikums zu untersuchen. Aus dieser Epoche sind nur wenige Bestattungen bekannt, obwohl es aus früheren Zeiten – vor etwa 14.000 Jahren – einige menschliche Bestattungen gibt. "Kindesbestattungen aus dieser Zeit sind besonders selten, also liefert Neve wichtige Informationen, um diese Lücke zu schließen", sagt die Paläoanthropologin Jamie Hodgkins von der Universität Colorado in Denver (USA), Erstautorin der Studie.

"Der Fund zeugt davon, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft, selbst kleine Säuglinge, als vollwertige Personen anerkannt wurden und offenbar die gleiche Behandlung genossen", sagt Benazzi. Hodgkins zieht eine interessante Parallele zur Bestattung von ähnlich jungen Kindern aus Alaska, die auf die Zeit vor 11.500 Jahren datiert wurden. Dies deute darauf hin, dass die Anerkennung von Neugeborenen als Personen, von denen man sich mit einer Bestattungszeremonie verabschiedet, tief kulturell verwurzelt ist. Diese Wertschätzung dürfte sich durch gemeinsame Vorfahren entwickelt haben, deren Nachfahren sich in Europa und in Nordamerika ansiedelten, oder sie ist an mehreren Orten auf der Welt parallel entstanden.

Am Eingang der Arma-Veirana-Höhle im Nordwesten Italiens wurde das Grab entdeckt.
Foto: Dominique Meyer

Die Leiche wurde in einer 40 Meter langen Höhle mit einer merkwürdigen Hüttenform in der ligurischen Gemeinde Albenga entdeckt. Am Eingang stieß das Team auch auf mehr als 50.000 Jahre alte Werkzeuge aus der sogenannten Moustérien-Kultur, die üblicherweise mit Neandertalern in Verbindung gebracht werden. Sogar auf ihre Ernährung lassen sich Rückschlüsse ziehen durch die Funde von verkohltem Fett und Knochen mit Schnittspuren, die Wildschweinen und Hirschen zugeordnet wurden.

Stress in der Schwangerschaft

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass Neve zwischen 40 und 50 Tage alt war. Die Mutter des Kindes dürfte während der Schwangerschaft unter einer Reihe von Stresssituationen gelitten haben – vielleicht aufgrund von Nahrungsmangel. Dies beeinträchtigte die körperliche Entwicklung des Fötus.

Anhand der wenigen Überreste war es jedoch unmöglich, die Todesursache des Kindes zu bestimmen. "Im Moment konnten wir nur einen kleinen Teil der Höhle ausgraben, und wir wissen noch nicht, ob sich dort weitere Leichen befinden. Wir hoffen, die Ausgrabungen fortsetzen zu können", sagt Benazzi. Hodgkins hofft, dass dieser Fund nicht lange die Sonderstellung des ältesten Begräbnisses eines so jungen Mädchens einnehmen wird und bald neue Funde hinzukommen. (red, APA, 15.12.2021)