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Um alles oder nichts geht es für den ehemaligen Strahlemann Boris Johnson. Manch einer sieht schon sein politisches Ende gekommen.

Foto: Reuters / Henry Nicholls

Wie kritisch er selbst seine Lage einschätzt, hat Boris Johnson durch zwei Appelle demonstriert: Persönlich bat der Premier die Wähler im mittelenglischen Shropshire um Vertrauen: Bei der Unterhausnachwahl am Donnerstag sollten sie bitte das Kreuz beim Konservativen machen.

Der 57-Jährige muss hoffen, dass ihm das Abweichen von der Konvention (in Großbritannien halten sich Regierungschefs aus Nachwahlkampagnen heraus) mehr Sympathien einbringt als sein zweiter Aufruf am Dienstagnachmittag. Da hatten die Fraktionsmanager kurzfristig die konservativen Abgeordneten im Unterhaus zusammengerufen: Persönlich wollte der Chef die Lage im Kampf gegen die neue Omikron-Variante beschreiben und um Unterstützung für neue Corona-Einschränkungen in England werben.

"Wir sollten heute Abend das Richtige für unser Land tun", rief Johnson aus. Donnerndem Applaus folgten wenig später saftige Abstimmungsschlappen: Mehr als 100 von 361 Tories verweigerten ihrer eigenen Regierung die Gefolgschaft; neben einer Zahl von Enthaltungen stimmten 101 gegen die 3G-Regelung, die nun in England beim Besuch von Großveranstaltungen gilt.

Über die korrekte Interpretation dieser brutalen Watschen gab es tags darauf heftige Debatten. Manche mag die Sorge um eine Erosion der Bürgerrechte ins Nein-Lager getrieben haben. Ein Impfpass, das erinnere ihn an "Nazi-Deutschland", gab Marcus Fysh zu Protokoll und zementierte damit seinen Ruf als Dummkopf des Unterhauses.

Der Aufstand gegen die Regierung war insofern billig zu haben, als Labour vorab die Unterstützung der Maßnahmen versprochen hatte. Oppositionsführer Keir Starmer rieb seinem Kontrahenten am Mittwoch genüsslich unter die Nase, dass dieser ohne die Stimmen seiner Partei keine Mehrheit habe: "Dem Premierminister fehlt die moralische Autorität, das Land durch die Pandemie zu führen."

"Schmerzensschrei"

Sehen das die Nein-Sager ähnlich? "Einen Schmerzensschrei" konstatierte einer der Rebellen als Ursache des Abstimmungsverhaltens und spielte damit auf die Pannen der vergangenen Wochen an. Eine lang versprochene Neubaustrecke der Eisenbahn wurde gestrichen; die Finanzierung einer teuren Reform der Pflegehilfe geriet ebenso ins Zwielicht wie die Bezahlung der Kosten für eine umfangreiche Renovierung von Johnsons Dienstwohnung in der Downing Street.

Vor allem aber ärgern sich viele Fraktionsmitglieder über die Nonchalance, mit der ihr Parteichef sie im November ins Sperrfeuer der Kritik laufen ließ. Damals ging es um den Abgeordneten Owen Paterson, dem unerlaubtes Lobbying nachgewiesen wurde. Die Bestrafung durchs Parlament unterlief Johnson, indem er mit den Stimmen seiner Fraktion eine neue Untersuchung durchsetzte – und die Maßnahme tags darauf zurückzog, weil der geplanten neuen Regelung die zwingend nötige überparteiliche Unterstützung fehlte. Paterson trat zurück, die Nachwahl wurde nötig.

Weihnachtsparty-Video

Im Wahlkampf vor Ort spielten die Schlagzeilen der vergangenen Wochen eine zunehmende Rolle: Beinahe täglich verbreiten die Zeitungen neue Fotos von Weihnachtspartys vor Jahresfrist in der Downing Street sowie anderen Ministerien, aber auch in der konservativen Parteizentrale. Dabei galt im Advent 2020 in London ein Verbot geselliger Zusammenkünfte. Da hätten der Premier und seine Leute "die Öffentlichkeit zum Narren gehalten", fasste Starmer die Stimmung im Land zusammen.

Ähnliches bekommen die konservativen Wahlkämpfer in Oswestry und Whitchurch sowie den umliegenden Dörfern zu hören. Nord-Shropshire schickt seit Menschengedenken Tories ins Parlament – aber ebenfalls seit Menschengedenken nutzen die Briten Nachwahlen als Denkzettel für eine Regierung, mit der sie nicht mehr einverstanden sind. Der ländliche Bezirk an der Grenze zu Wales ist plötzlich zum Schauplatz eines Referendums über Boris Johnson geworden.

Geht der Sitz verloren, dürfte der Stuhl des Premiers stark wackeln. Ob die Rebellen dann die Vertrauensfrage stellen? Eigentlich sei dies die logische Folgerung ihrer Verweigerung, analysiert der Tory-Lord Daniel Finkelstein in der Times: "Man kann nicht von anderen Unterstützung für eine Regierung erwarten, der man selbst nicht traut." (Sebastian Borger aus London, 15.12.2021)