Warum brauchen wir überhaupt Vertrauen? "Weil wir in sehr vielen Bereichen unseres alltäglichen Lebens mit Problemsituationen konfrontiert sind, die wir nur kooperativ lösen können", erklärt der an der Uni Luzern lehrende und forschende Philosoph Martin Hartmann. Er hat ein Buch über "die unsichbare Macht" Vertrauen geschrieben.

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Mit der Corona-Krise scheint auch eine Vertrauenskrise um sich zu greifen. Im Austria Corona Panel Project der Uni Wien gaben im März 2020 noch 67 Prozent der 1500 monatlich Befragten an, großes Vertrauen in die Regierung zu haben, im Jänner 2021 nur noch 28 Prozent. Laut dem vom Sora-Institut verantworteten Demokratie-Monitor 2021 sind derzeit beinahe sechs von zehn Menschen davon überzeugt, dass das politische System in Österreich weniger oder gar nicht gut funktioniert.

STANDARD: Warum bröckelt der gesellschaftliche Kitt Vertrauen so stark?

Hartmann: Es ist wahnsinnig viel passiert, das für viele Beteiligte nicht verständlich und nachvollziehbar war, und zwar auch für das politische Personal. Dass die Werte so stark nach unten gehen, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass man das Gefühl hat, dass die Politik die Situation nicht mehr wirklich unter Kontrolle hat. In solchen Zeiten wünscht man sich ein paar stabile Anker und erwartet eine Orientierungsleistung für die nähere Zukunft, und die bekommt man nicht, eben weil die Politik selber immer wieder Luft holen muss, schauen, was ist jetzt wieder los, was sagt die Wissenschaft, welche Stimmung ist in der Bevölkerung?

STANDARD: Sie forschen auch zu Demokratietheorie. Was bedeuten denn so niedrige Vertrauenswerte?

Hartmann: Demokratie muss auch mal schlechte Vertrauenswerte aushalten. Fehlendes Vertrauen oder Misstrauen ist ja nicht immer völlig falsch, aber es darf sich nicht verstetigen und dazu führen, dass sich die Leute innerlich verabschieden aus der Demokratie und ins Extrem gehen. Das wäre eine Gefahr, aber ob diese niedrigen Werte das bedeuten, würde ich jetzt zumindest infrage stellen, weil es oft auch ziemlich schnell wieder nach oben geht, wenn sich die Situation beruhigt. Ja, es gibt einen nicht unerheblichen Teil, der sich radikalisiert hat. Die Politik muss jetzt möglichst schnell versuchen, etwas verlässlicher zu werden und längerfristige Entscheidungen zu fällen.

STANDARD: In Österreich hieß es seitens der Politik lange, es wird keine Impfpflicht geben. Jetzt, wo die Hütte brennt, hat die Regierung ab 1. Februar eine Impfpflicht angekündigt. Ramponiert so etwas das Vertrauen?

Hartmann: Man hat sich zu lange auch ein bisschen treiben lassen von den Kritikern der Maßnahmen oder ist ihnen zu sehr nachgerannt. Es ist immer riskant, wenn man die Fahne in den Stimmungswind hängt. Auch in Österreich hat sich ja wie in anderen Ländern eine Mehrheit der Menschen impfen lassen – und die Politik hat diese Mehrheit vernachlässigt. Sie hat sich zu stark Angst einjagen lassen von den lauten Minderheiten und Entscheidungen aufgeschoben oder nicht so kommuniziert, wie es sinnvoll gewesen wäre.

STANDARD: Was wäre denn vertrauensbildend oder -reparierend?

Hartmann: Ehrliche Kommunikation oder eine offene Fehlerkultur. Es reicht aber nicht, wenn die Politik Fehler einräumt, und die Bevölkerung straft sie dann dafür ab. Auch die Bevölkerung muss bereit sein, der Politik Fehler zuzugestehen und nicht sofort mit einer gewissen Gnadenlosigkeit zu reagieren. Allerdings hängt das auch davon ab, wie der Fehler kommuniziert wird. Ehrlich und authentisch oder nur strategisch? Das wäre wichtig. So wie auf eine nachvollziehbare Weise zu mitunter auch unangenehmen Entscheidungen zu stehen. Das kann auch helfen. Vertrauen braucht Vertrauenswürdigkeit, und vertrauenswürdig ist, wer konsistent und nachvollziehbar seine Position hält, auch gegen Kritik. Dazu gehört dann auch, von Anfang an einzuräumen, dass man, wenn man neue Erkenntnisse hat, seine Meinung auch revidieren wird.

STANDARD: Wozu brauchen wir überhaupt Vertrauen?

Hartmann: Weil wir in sehr vielen Bereichen unseres alltäglichen Lebens mit Problemsituationen konfrontiert sind, die wir nur kooperativ lösen können. Wir sind angewiesen auf andere, die uns helfen und unterstützen. Das gilt auch für das politische Handeln. Wir brauchen eine Politik, die für uns klare Entscheidungen trifft, die Politik braucht aber auch eine Bevölkerung, die bereit ist, auch mal unangenehme Maßnahmen umzusetzen. Beides lässt sich nicht erzwingen. Man muss die Leute überzeugen, auch wenn es mühselig ist. Das gilt auch für die Impfpflicht. Dazu kommt: An manchen Stellen haben wir auch Angst zu vertrauen. Wir reden zwar alle über Vertrauen, beklagen den Verlust, brauchen es, aber gleichzeitig tun wir ganz schön viel, um nicht vertrauen zu müssen, weil Vertrauen macht ja verletzlich, und das will nicht jeder. So sind wir in einer schizophrenen Situation.

STANDARD: Was halten Sie eigentlich von dem geflügelten Wort "Vertrauen ist gut, Kontrolle besser"?

Hartmann: Ja, es gibt Bereiche, wo Kontrolle besser ist, vor allem wenn es um sehr große Machtungleichgewichte oder Informationsasymmetrien geht. Da brauchen wir Kontrolle. Wenn ein Akteur so stark ist, dass ich in diesem Verhältnis, etwa beim Kauf einer Ware, so schwach bin und so wenig weiß, muss man versuchen, durch Kontrollmaßnahmen eine gewisse Sicherheit zu gewährleisten. Aber ich habe ja schon angedeutet: Kontrolle ersetzt Vertrauen nicht, weil sie nie wirklich den erwünschten Ausgang garantiert. Wenn wir Prozesse kontrollieren, haben wir es immer noch mit Menschen zu tun, die in diesen Prozessen Spielräume haben, die sie nutzen können, so oder so. Das heißt, auch da brauchen wir an irgendeinem Punkt wieder Vertrauen, damit umgesetzt wird, was wir umgesetzt haben wollen. Und dann bleibt noch die berühmte philosophische Frage: Wer kontrolliert die Kontrolleure und dann vielleicht die Kontrolleure der Kontrolleure?

STANDARD: Hat das Coronavirus nicht auch ganz basale, bisher selbstverständliche Vertrauensgrundlagen erschüttert? Jetzt ist quasi jeder und jede eine potenzielle Ansteckungsquelle. Man zuckt vor gereichten Händen zurück oder ist genervt, wenn jemand zu wenig Abstand hält, weil er oder sie ja infektiös sein könnte. Was von dieser Vertrauenserschütterung wird, wann immer die Pandemie vorbei ist, bleiben?

Hartmann: Wir sind ja nicht nur Kopfwesen, wir leben mit Körpern in dieser Welt, und wenn wir unsere Körper oder unser Antlitz verhüllen, wenn wir auf den Handschlag verzichten oder bestimmte Distanzen halten müssen, dann beeinflusst uns das auch in unserem ganzen körperlichen In-der-Welt-Sein. Je länger der Zustand andauert, desto mehr wird es zur Gewohnheit werden. Da sehe ich eine Dimension, wo es tatsächlich schwer werden könnte, alles wieder abzuschütteln und auf einen Schlag loszuwerden.

STANDARD: Inwiefern?

Hartmann: Man sieht es ja schon jetzt, wenn man sich in Räumen bewegt, wo alle ihr Impfzertifikat haben und man doch nicht weiß, soll ich die Hand geben oder doch noch die Faust? Halte ich immer noch Abstand? Es wird sicher noch etwas dauern, bis wir uns von dieser Unsicherheit wieder entwöhnen. Beängstigender finde ich, dass wir durch die Corona-Krise wahnsinnige Differenzen kennengelernt haben und Dinge, die vorher nicht so ausgesprochen werden mussten, jetzt nach außen gezerrt werden. Ob man geimpft ist oder nicht, hat mich normalerweise nicht zu interessieren, das ist ja eine private Entscheidung. Jetzt wissen oder ahnen wir manchmal, wenn jemand im Homeoffice sitzt, aha, der darf nicht ins Büro, weil er vielleicht nicht geimpft ist. Oder man hat im privaten Umfeld Leute, die an Verschwörungstheorien glauben. Fast jeder kennt Leute, mit denen man eng war und zu denen man plötzlich keinen Kontakt mehr hat. Dieser Schock, dass doch recht viele Menschen sehr wissenschaftsskeptisch sind und wüsten "Theorien" Glauben schenken und auf vielen Ebenen ganz anders ticken, könnte längerfristig ein Problem sein.

STANDARD: Wobei es aber natürlich auch vor der Corona-Pandemie immer schon gesellschaftliche Differenzen und Verwerfungen gab.

Hartmann: Ja, aber sie waren nicht so dramatisch sichtbar wie jetzt. Wie wir mit diesen Spaltungen und Rissen umgehen, wird uns als Gesellschaft langfristig beschäftigen. Das kann auf der alltäglichen Ebene ein Problem sein. Werden wir wieder miteinander reden, oder ist es für immer vorbei? Finden wir wieder eine Ebene, oder sind die Differenzen so groß, dass uns das dauerhaft entzweit? Diese Fragen müssen, wenn es überhaupt je ein "nach Corona" gibt, geklärt und bearbeitet werden – mit offenem Ausgang. (Lisa Nimmervoll, 16.12.2021)