Vor zwei Wochen verschickte Thomas Szekeres, der Präsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK), ein kurzes Rundschreiben an die Kollegenschaft. Darin hieß es unter anderem, "dass es derzeit aufgrund der vorliegenden Datenlage aus wissenschaftlicher Sicht (…) grundsätzlich keinen Grund gibt, Patientinnen/Patienten von einer Impfung gegen Covid-19 abzuraten".

Foto: Der Standard / ÖÄK

Einzig medizinisch und wissenschaftlich belegte Gründe (wie etwa eine Allergie gegen die Impfstoffe) könnten dagegensprechen. Eine allfällige Verletzung einer Berufspflicht in diesem Zusammenhang werde durch die Disziplinarkammer der ÖÄK geprüft.

Impfskeptische Ärzte, angeführt von Andreas Sönnichsen (der im Briefkopf als Facharzt für Interne Medizin firmiert), reagierten auf das Schreiben allergisch und erwiderten es am Dienstag mit einem offenen Brief. Der scharf formulierte Text, der in einer Rücktrittsaufforderung an Szekeres gipfelt, argumentiert mit dem Verweis auf "evidenzbasierte Medizin" und verschiedene Studien gegen den Nutzen der Impfungen.

Dazu gab es am Mittwoch eine Pressekonferenz, bei der sich Sönnichsen unter anderem mit diesen Worten echauffierte: "Das ist der größte Medizinskandal aller Zeiten. Die hochgelobte Impfung hat doch versagt!" In Großbritannien werde bereits offen zugegeben, was hier noch vertuscht wird: "Die vierte Welle ist eine Welle der Geimpften. In den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen liegen überwiegend Geimpfte."

500.000 gerettete Leben in Europa

Was stimmt: Die Hoffnungen in die Impfungen waren vielfach übertrieben. Aber worin der "größte Medizinskandal aller Zeiten" liegen soll, dass Impfungen gegen Covid-19 bis jetzt bereits rund 500.000 Menschenleben in Europa allein bei den Personen über 60 Jahren retteten, wie die WHO mit dem ECDC (Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten) kürzlich ermittelte, kann wohl nur Sönnichsen erklären.

Dass die vierte Welle eine der Geimpften sei, ist natürlich auch Unsinn. Sie ist aber auch keine allein der Ungeimpften, obwohl in unseren Spitälern nach wie vor mehr Ungeimpfte wegen Covid-19 behandelt werden. Dass mittlerweile auch etliche geimpfte Personen wegen Covid-19 in Krankenhäusern liegen, ist indes leicht erklärbar: weil nämlich der Anteil der Geimpften in den Risikogruppen zum Teil weit jenseits der 90 Prozent liegt. Illustrieren lässt sich das dann so:

Wenn man (wie Sönnichsen) nur auf die Zahl der Spitalspatienten schaut (links), kann der Eindruck entstehen, dass die Impfung nicht so gut wirkt. Nimmt man allerdings die Grundgesamtheiten der wenigen Ungeimpften und der vielen Geimpften dazu (rechts), wird der Nutzen der Impfung offensichtlich. Dazu kommt, dass von den Risikopatienten besonders viele geimpft sind.
Grafik: https://covid19.public.lu

Im Brief der Mediziner heißt es immerhin nicht ganz so radikal, die Schutzwirkung der Impfung sei "– wenn überhaupt – lediglich für Personen mit einem hohen Risiko für einen schweren Verlauf für Covid-19 relevant". Die Kernbotschaft: Bei gesunden Menschen unter 65 Jahren würden "mit hoher Wahrscheinlichkeit die Risiken durch die Impfung den potenziellen Nutzen" überwiegen. Stimmt das? Und wie ist der Brief, den die Ärztekammer gerade "prüft", wie es auf STANDARD-Nachfrage hieß, insgesamt zu bewerten?

0,4 Prozent aller Ärztinnen und Ärzte

Die Liste der unterzeichnenden Ärzte ist auf den ersten Blick beeindruckend lang und nimmt mehr als die Hälfte der sieben Seiten ein. Viele von ihnen sind seit vielen Monaten aus den einschlägigen Foren der Maßnahmen- und Impfkritiker bekannt. So findet sich neben den Erstunterzeichnern Sönnichsen, Martin Haditsch und Christian Schubert auch Maria Hubmer-Mogg mit der Bezeichnung "Ärztin für Allgemeinmedizin, Graz" unter den Namen. Hubmer-Mogg hat sich freilich erst im November aus der Ärzteliste streichen lassen, um nicht "mit Disziplinaranzeigen eingedeckt zu werden", wie sie in diesem erhellenden Streitgespräch mit dem Rektor der Med-Uni Graz erklärte.

199 Ärztinnen und Ärzte klingt nach viel. Im Verhältnis zu den rund 47.600 Medizinerinnen und Medizinern in Österreich (rund 26.400 Fachärzte, 13.000 Allgemeinmediziner und rund 8.000 Turnusärzte) sind das aber nur etwas mehr als 0,4 Prozent – nur um die Relationen zu wahren. Das heißt selbstverständlich nicht, dass nicht auch eine sehr kleine, aber lautstarke Minderheit recht haben kann. Deshalb ist auch eine kurze Überprüfung der Hauptargumente und der verlinkten Studien angebracht.

Die Wirkungen der Impfung

Der offene Brief enthält einige richtige Argumente, etwa auch zum Nachlassen der Impfwirkung. Die angeführte Studie, die belegen soll, dass es keinen Zusammenhang zwischen Impfquote und Fallzahlen gäbe, wird von Impfgegnern gerne zitiert, steht aber im Widerspruch zur Mehrzahl der Untersuchungen zu dieser Frage (wie etwa dieser). Vor allem aber wird im offenen Brief verschwiegen, dass die Impfungen die CoV-Hospitalisierungs- und Sterbezahlen um ein Vielfaches senken, was das unterschlagene Hauptargument für die Impfungen ist.

Der ebenfalls mit einer Studie belegte Hinweis von Sönnichsen und Kollegen, dass auch Geimpfte das Virus "gleichermaßen weitergeben können", ist grob irreführend. Denn es wird verschwiegen, dass Geimpfte zwar eine ähnlich hohe maximale Virenlast haben wie Ungeimpfte, sich aber seltener anstecken und kürzer infektiös sind, was im Übrigen eine der Kernaussagen der zitierten Studie ist: "Die Impfung reduziert das Risiko einer Infektion mit Delta" heißt es da wörtlich, "und beschleunigt die Beseitigung des Virus." Die Mediziner, die auf knapp drei Seiten Text sechs Mal das Attribut "evidenzbasiert" verwenden, scheinen nicht einmal jene Fachartikel genau zu lesen, die sie zitieren.

Das trifft auch auf eine israelische Studie über Comirnaty zu, den Impfstoff von Biontech/Pfizer, auf die Sönnichsen et al. verweisen, um angeblich nachzuweisen, dass die Effekte der Booster-Impfungen "allenfalls marginal" seien "und sicher am Verlauf der Pandemie insgesamt nichts ändern werden". Die Hauptaussage der zitierten und verlinkten Studie ist freilich wortwörtlich: "Wir fanden heraus, dass bei jenen, die einen Booster mit BNT162b2 erhielten, die Raten der bestätigten Covid-19-Fälle und der schweren Erkrankungen substanziell niedriger waren." Evidenzbasierte Interpretationen sehen anders aus, zumal es noch zahlreiche andere Studien wie diese hier gibt, die zu ähnlichen Ergebnissen kommen.

Einschätzung der Nebenwirkungen

Nicht fehlen dürfen im Brief die mittlerweile über 600.000 Nebenwirkungsmeldungen zu Comirnaty, "wenn auch die Kausalität für den individuellen Fall nicht nachweisbar bleibt". Die pauschale Deklarierung der Impfstoffe als "sicher" durch Ärztekammer, Politik und Medien offenbare sich als "unwissenschaftliche Propaganda".

Dazu ist erstens zu sagen, dass niemand je behauptet hat, dass es keine Nebenwirkungen gibt; selbstverständlich wurde und wird in den Medien regelmäßig darüber berichtet. Zweitens aber geht es immer um die Nutzen-Risiko-Relation. Und die spricht – anders als die impfkritischen Medizinerinnen und Mediziner behaupten – auch bei gesunden Menschen unter 65 Jahren eindeutig für die Impfungen.

Das belegt auch ein Blick auf die wichtigste schwere Nebenwirkung bei den mRNA-Impfstoffen, nämlich Herzmuskelentzündungen. Die ist ein Risiko, aber ein sehr geringes. Die bisher umfassendste Untersuchung dazu wurde just an jenem Tag in "Nature Medicine" publiziert, an dem der Brief der Impfskeptiker abgeschickt wurde. Ergebnis: Das Risiko für Erwachsene, nach einer Impfung an Myokarditis zu erkranken, ist deutlich niedriger als nach einer CoV-Infektion – und das, obwohl Covid-19 eigentlich eine Lungenerkrankung ist und Herzerkrankungen nur eine vergleichsweise seltene "Nebenwirkung" der Infektion sind.

Andere Untersuchungen, die im Hinblick auf Myokarditis zum gleichen Schluss kamen, gab es aber auch schon lange vor dem Verfassen des Briefs, auch solche für junge Männer, bei denen das Risiko einer Herzmuskelentzündung nach Impfungen am größten ist.

Evidenzen können sich ändern

Man kann selbstverständlich darüber diskutieren, ob eine Impfpflicht in der aktuell geplanten Form für alle Personen ab 14 Jahren zielführend ist. Und selbstverständlich kann sich durch neue Varianten der Nutzen der Impfungen wieder ändern, wie Sönnichsen und Kollegen richtig anführen. Doch auch für Omikron legen die neuesten Daten nahe, dass nach drei Impfungen (oder einer Infektion plus Impfung) ein guter Schutz gegeben ist.

Deshalb stimmt also die Empfehlung des Ärztekammerpräsidenten in ihrer Kernaussage nach wie vor: "dass es derzeit aufgrund der vorliegenden Datenlage aus wissenschaftlicher Sicht (…) grundsätzlich keinen Grund gibt, Patientinnen/Patienten von einer Impfung gegen Covid-19 abzuraten". Durch neue wissenschaftliche Fakten – etwa bei einer neuen Virenvariante – kann es natürlich zu einer Neubewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses der Impfungen kommen. Die "Evidenzen", die Sönnichsen und seine Mitstreiter präsentieren, reichen dafür aber keinesfalls.

Nachtrag: Wie die Medizinische Universität Wien heute auf STANDARD-Nachfrage bestätigte, wurde das Dienstverhältnis mit Prof. Andreas Sönnichsen in den letzten Tagen beendet. Zudem wurde er gestern aufgrund seiner jüngsten Aussagen auch noch freigestellt. Die Kündigung wird mit 1. März 2022 in Kraft treten. Die Med-Uni Wien hat sich bereits mehrfach von Sönnichsens Aussagen distanziert und schon im Jänner dienstrechtliche Schritte angekündigt. Als Grund für das dienstrechtliche Vorgehen wurde auf STANDARD-Nachfrage von der Med-Uni Wien neben seinen jüngsten Aussagen angegeben, dass Sönnichsen auch mehrfach gegen die hausinternen Corona-Regeln und entsprechende Weisungen verstoßen habe. Sönnichsen bestreitet dieser Verstöße in eigenen, am Samstag veröffentlichten Stellungnahme. (Klaus Taschwer, 16.12.2021)

Anm. der Red.: Der Nachtrag wurde um 10:57 eingefügt; Sönnichsens Dementi stammt vom Samstag.