Kundry (Anja Kampe) als Fotoreporterin eines Lifestyle-Magazins.

Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Die Gralsburg, die Kultstätte keuscher Kerle: ein Knast. Kundry, das "wilde Tier": eine toughe Fotoreporterin eines Lifestyle-Magazins mit Klingsor als übergriffigem Chef. Und den Heilsbringer Parsifal gibt es gleich doppelt, in jung und durchtrainiert sowie in mittelalt und normalmenschlich. Der reine Tor killt zu Beginn keinen Schwan, sondern einen Mithäftling, der ihm im Nassraum zu nahe kommt.

Im Frühjahr wurde Kirill Serebrennikows Parsifal-Inszenierung für die Wiener Staatsoper erstmals gezeigt: im Lockdown, für eine Handvoll Musikjournalisten und TV-Kameras. Am Mittwochabend erlebte die Deutung des Bühnenweihfestspiels in einem schütter besetzten Haus seine Premiere vor Publikum, sie wurde erst von einer Minderheit ausgebuht, letztendlich aber von der Majorität bejubelt.

Akt der Selbstermächtigung

Man kann beide Seiten verstehen: So sieht das Auge etwa eine graue Gefängniswelt, wenn Wagner klangfarbenreich des "Waldes Morgenpracht" schildert. Aber die bilderstarke Inszenierung entwickelt oft eine Schlüssigkeit, die jene des weihrauchschwangeren Textbuchs fast übertrifft. Und dass Serebrennikow Kundry in einem Akt der Selbstermächtigung Klingsor (und mit ihm auch Wagners krudes Frauenbild) über den Haufen schießen lässt, gönnt man ihr von Herzen.

Nach Elina Garanča durfte nun die großartige Anja Kampe küssen, morden und singen; sie tat es mit hoher Präzision und oft schmerzender Intensität. Für seine Langstrecke im ersten Aufzug hätte man dem tadellosen Georg Zeppenfeld (als Gurnemanz) Kampes Variabilität gewünscht; gut, dass hier Brandon Jovanovich (als Parsifal) mit vokalen Vitalitäts-Boostern für eine Auffrischung der Aufmerksamkeit sorgte. Mit heller Stimmkraft stattete Wolfgang Koch Amfortas und Klingsor (hier ein Brüderpaar) aus. Marathonmann Philippe Jordan – er dirigiert bis zum Stefanitag quasi durch – bot mit dem Staatsopernorchester Verlässlichkeit und überzeugte im aktionsreicheren Mittelaufzug mehr als in den Gefilden der Metaphysik. (sten, 17.12.2021)