"They Called Us Savages" – Demonstrationen in Kanada.

Foto: AFP / Andrej Ivanov

Ende Mai dieses Jahres fand man die Leichen von 215 Kindern in einem Massengrab bei der früheren Kamloops Indian Residential School im Westen Kanadas. Der Fund warf ein Schlaglicht auf ein finsteres Kapitel der jüngeren Geschichte des Landes: das System der sogenannten "Residential Schools", das der Umerziehung der indigenen Kinder diente.

Sie wurden den Eltern mit Gewalt weggenommen und in Internate gebracht, die die Kirchen betrieben. Das System wurde schon Ende des 19. Jahrhunderts eingerichtet, die letzte derartige Schule wurde erst 1996 geschlossen. Aus "wilden Heiden" sollten ordentliche weiße christliche Kinder werden. Ziel war die Auslöschung der Kultur der kanadischen Ureinwohner.

Schätzungen zufolge durchliefen rund 150.000 Kinder dieses System. Tausende starben dabei, meist an Tuberkulose. Erst im Jahr 2008 entschuldigte sich der kanadische Premier bei den Indigenen, eine "Wahrheits- und Versöhnungskommission" wurde eingesetzt, die in ihrem Abschlussbericht 2015 von einem "kulturellen Völkermord" sprach.

Mit acht Jahren verschleppt

Im vergangenen Jahr erschien das Buch They Called Us Savages von Dominique Rankin, dem ehemaligen Grand Chief der Algonquin Nation und Medizinmann, in Zusammenarbeit mit der Journalistin Marie-Josée Tardif. Rankin wurde 1955 im Alter von acht Jahren zusammen mit seinen Geschwistern von der Polizei in eine Residential School verschleppt und verbrachte dort sechs Jahre. Sein Lebensbericht erhellt jetzt den gesellschaftlichen und politischen Kontext des Umerziehungssystems: die strikte Assimilations- und Apartheidpolitik gegenüber der indigenen Bevölkerung.

Sie setzte mit Ende des 19. Jahrhunderts ein, vor allem in Form des staatlichen Verbots der nomadischen Lebensweise, um die kanadischen Indianer und Inuit zu "zivilisieren". Chief Rankin schildert die Folgen dieser Politik, nämlich den Niedergang der traditionellen Lebensweise und die prekäre Existenz der Indigenen am Rande der Gesellschaft, mit ständigem erzwungenem Ortswechsel, bis Reservate eingerichtet wurden: "Wir durften nicht im Wald wohnen, wie wir es in der Vergangenheit getan hatten, und wir waren nicht willkommen irgendwo anders."

Den kanadischen Indianern wurde zu dieser Zeit verboten, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, Restaurants oder Hotels zu besuchen. Der traditionelle Glaube mit seinen Ritualen konnte nur im Geheimen fortgeführt werden. Rankin kommt zum bitteren Fazit: "Die Ankunft der Europäer auf unserem Kontinent kündigte die Ankunft von Krankheit, Zerstörung und Tod an."

Traumatische Erfahrungen

Mit seinem Bericht über seine Kindheitserfahrungen durchbricht Chief Rankin endlich ein Tabu, das dieses Thema nach wie vor umgibt: "Das Schweigen, das Leid umgibt, ist schmerzvoller als das Leid selbst." Um zu einer Heilung zu gelangen, müsse diese Mauer überschritten werden.

Im sechsten Kapitel des Buches beschreibt er die traumatischen Erfahrungen der Kinder, denen man systematisch ihre Identität nehmen wollte, indem bei Eintritt ihre traditionellen Kleider verbrannt, die Haare geschoren, der Gebrauch der indianischen Sprache bei Strafe verboten und sie nur mit Nummern angesprochen wurden.

Ganz deutlich spricht er es aus: "Ich kann bezeugen, dass vom ersten Tag an, an dem wir ihren Boden betraten, die 250 Buben und 250 Mädchen, die der Kirche anvertraut worden waren, Opfer von physischer, psychischer und sexueller Gewalt wurden." Erst mit 14 Jahren gelingt es ihm zusammen mit anderen Kindern, sich gegen Gewalt und Missbrauch zu wehren. Rankin schafft den Wechsel auf eine öffentliche Schule.

Bedeutsames Dokument

Der Autor zeichnet kein Schwarz-Weiß-Bild – er anerkennt, dass die Mehrheit der Lehrer exzellent unterrichtete, und differenziert, was das Christentum betrifft: "Ich mag die Botschaft von Christus, aber es fällt mir schwer, zurecht zukommen mit dem, was manche Leute daraus gemacht haben." Das Buch ist über Kanada hinaus ein bedeutsames Dokument.

Rankin vermittelt ein lebendiges Bild von der inneren Zerrissenheit, die mit dem westlichen modernen Einfluss und dem Versuch, die indigenen Traditionen am Leben zu erhalten, einhergeht. Wir lernen viel über Assimilationspolitik der kanadischen Regierung gegenüber der indigenen Bevölkerung, aus der Perspektive eines Angehörigen der betroffenen Gruppe.

Der komplexe Zusammenhang von Kolonisierung und Missionierung wird am Beispiel Kanada illustriert. Für das Phänomen des sexuellen Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche und anderen, nichtkirchlichen Institutionen ist Rankins Bericht aufschlussreich, um die psychologischen Mechanismen besser zu verstehen.

Bewegend und lehrreich ist es mitzuverfolgen, wie Rankin als Erwachsener in einem schmerzvollen Prozess das Trauma überwindet und wie ihm die indianische Tradition dabei hilft. (Ernst Fürlinger, ALBUM, 18.12.2021)