Viele, die "Freiheit" grölen, wollen, ihrer diffusen Freiheitsauslegung folgend, gleichzeitig die Grenzen verriegeln und Zäune und Mauern errichten.

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Der Begriff "Freiheit" ist im Lauf der Zeit dermaßen beliebig und schwammig verwendet, verzerrt und entstellt worden, dass wir gut daran tun würden, ihn aus unserem Sprachgebrauch zu streichen. Er sorgt für nichts als Verwirrung. Wie auch "Heimat" dient "Freiheit" hauptsächlich als leere Worthülse oder eilig hervorgekramte Losung. Die Menschen nehmen es in den Mund, wie es ihnen beliebt. Schreien es aus sich heraus, ohne zu wissen, was sie tatsächlich damit meinen.

In den Pandemiejahren ist "Freiheit" ein besonders in Mode gekommenes Unwort. Bezeichnenderweise sind es genau diejenigen, die am stärksten der Anziehung von "Heimat" verfallen, die nun am lautesten von Freiheit schwärmen. Meinen sie "frei" wie in "Arbeit macht frei", den Toraufschriften der NS-Konzentrationslager? Identifizieren sie sich mit der Freiheitlichen Partei, den Freisinnigen oder den Freien Demokraten?

Viele derjenigen, die derzeit "Freiheit" grölen, wollen, ihrer diffusen Freiheitsauslegung folgend, gleichzeitig die Landesgrenzen verriegeln und Zäune und Mauern errichten. Außenstehende sollen der Freiheit beraubt werden, das Land der hiesigen Freiheitskämpfer zu betreten – ein Land, das freilich selbst nicht frei ist, sondern eingebettet in eine hochkomplex globalisierte Welt, deren Verstrickungsmuster sogar für Fachleute kaum zu entschlüsseln sind.

Freiheit als Aufgabe

Wir alle haben mit allen zu tun, ob es uns gefällt oder nicht. Die Klimakrise, die Pandemie, die Migrationsbewegungen zeigen das in aller Deutlichkeit. Es ist eine Welt. "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen", lautet Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Gerade die, die derzeit die Freiheit so lautstark skandieren, scheinen ihm in jeder Beziehung zu widersprechen. Im Grunde wollen wohl sie selbst am wenigsten wirklich frei sein, denn frei zu sein bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Freiheit ist bedingt durch Pflichtbewusstsein. Sie darf nicht als Narrenfreiheit missverstanden werden, sondern bedeutet Arbeit, ist eine Herausforderung, ist anstrengend.

Je freier ich bin, desto mehr trage ich die Konsequenzen für mein Tun. Der Schritt in die Freiheit ist ein Schritt in die Selbstständigkeit. Sobald ich ihn mache, kann ich meine Verantwortung nicht mehr auf einen Gott, Vormund oder Vorgesetzten abschieben, der zuvor noch meine Freiheit einschränkte.

Niemand kann frei sein, ohne selbstständig zu sein, stellte Maria Montessori schon vor über 100 Jahren fest. Natürlich ist ein Vogel im Käfig unfrei. Doch er bekommt zu essen und ist geschützt vor Gefahren. Wird er, der Freiheit nicht kennt, ihr ausgesetzt und sich selbst überlassen, wird er vogelfrei und voraussichtlich nicht lange überleben.

Wertvolles Gut

Jede Freiheit, die wir einfordern, müssen wir als wertvolles und zerbrechliches Gut begreifen, als Aufgabe. Mit unserer Freiheit bringen wir uns selbst und andere in Gefahr, genau daraus entsteht die Verpflichtung, besonnen mit ihr umzugehen. Ignorieren wir diese Tatsache, verwechseln wir Freiheit mit Fahrlässigkeit.

DER STANDARD

Es kann nicht jedem, der es als sein angeborenes Freiheitsrecht empfindet, eine Waffe zu tragen, ein geladenes Gewehr in die Hand gedrückt werden wie in den USA. Man sieht, wohin das führt. Niemand darf Freiheit einfordern, ohne zu verstehen, was sie für ihn, seine Mitmenschen und die Umgebung bedeutet.

Alles, was wir tun – je freier, entfesselter, umso mehr –, hat Auswirkungen, deren wir uns bewusst werden müssen, bevor wir anfangen. Wie in allen Bereichen unseres Zusammenlebens ist der Schlüssel auch hierzu die Bildung. Ohne Wissen und Erkenntnis ist Freiheit unmöglich.

Klare Denkbilder

Der Vogel kann seinen Käfig erst verlassen, wenn er darauf vorbereitet ist, was ihn draußen erwartet, der Mensch die Waffe erst tragen, wenn er sich die Berechtigung dazu erarbeitet hat, sich der Gefahren bewusst ist, sich an die daraus entstehenden Pflichten hält. Je mehr Zusammenhänge wir verstehen, desto freier können wir leben. Wenn wir klare Denkbilder besitzen, hielt Montessori fest, und die Fähigkeit haben, Entscheidungen zu treffen, gibt uns das ein Gefühl von Freiheit. Wir sind dadurch nämlich nicht von anderen abhängig.

Anders gesagt: Je mehr Wissen wir uns aneignen, desto freier können wir nicht nur sein, sondern sind es tatsächlich. Je genauer ich einschätzen kann, wohin meine Aktionen führen, desto mehr Wahlfreiheit besitze ich.

Anstatt dumpf in nur eine unausgeleuchtete Richtung zu drängen, die mich womöglich nur in neue Abhängigkeit bringt, erkenne ich etliche Alternativen. Freiheit ist immer ein Abwägen, ein Differenzieren. Sie ist nie absolut und schließt auch stets die Freiheit ein, das, was sich als Freiheit ausgibt, zu hinterfragen und abzulehnen.

Vernunft und Gewissen

Schon in der 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Erklärung der Menschenrechte war von Vernunft und Gewissen im Zusammenhang mit Freiheit die Rede. In unserer heute mehr als dreimal so dicht bevölkerten Welt ist das Zusammenspiel dieser beiden Komponenten immer entscheidender.

Für die persönliche Freiheit des Einzelnen sind neben der Bewusstseinsbildung ethische Werte unerlässlich. Ich muss nicht nur erkennen, was ich mit meiner Freiheit anstelle, ich muss mein Handeln auch in den Kontext der Weltgemeinschaft einbinden. Freiheit ist mit Egoismus nicht vereinbar, sonst wird die des einen sofort von der des anderen zunichtegemacht.

Füge ich im Ausleben meiner Freiheit anderen Schaden zu, bin ich nicht frei, sondern asozial, eine Gefahr für die Allgemeinheit. Das ist ein universelles Gesetz, so ungern wir es hin und wieder hören. Die meisten von uns haben diese Grundvoraussetzung der Freiheit in ihrer Erziehung oder Schulbildung kennengelernt, es gehört zum Repertoire einer demokratischen Gesellschaft. Zu leicht aber gerät es in Vergessenheit. Das Wissen um die Freiheit muss wie alles Wissen ständig aufgefrischt, aktualisiert, adaptiert werden.

Rücksichtslosigkeit statt Freiheit

Wir können nicht 2021 derselben Freedom-Romantik nachhängen wie Dennis Hopper in Easy Rider 1969. Motorradfahrer geben besonders gern Sätze wie "Ich lasse mir meine Freiheit nicht nehmen" von sich. Sie haben irgendwann den A-Führerschein gemacht und erfüllen die technischen Voraussetzungen zum Ausleben ihrer Freiheitsvision.

Doch den moralischen Bedingungen hält ihr Hobby heute, in Zeiten der Klimakatastrophe, nicht mehr stand. Ihr Lebensgefühl ist nicht Freiheit, sondern Rücksichtslosigkeit. Dort, wo wir uns der Rücksichtslosigkeit hingeben, weil wir es nicht schaffen, ein Bewusstsein zu entwickeln, muss der Staat eingreifen.

Gesetze, Verbote, Zwangsmaßnahmen müssen dann regeln, was selbstverständlich wäre. Es ist ein Versäumnis der Politik, es so weit kommen zu lassen. Ihre Aufgabe ist es, die moralische Kompetenz der Bevölkerung von vornherein zu fördern. Von diesem Ideal aber entfernt sie sich von Jahr zu Jahr weiter.

Pandemische Notlage

Die Selbstsüchtigkeit einer politischen Elite und Unmündigkeit eines breiten Bevölkerungsteils führen dazu, dass in Krisensituationen wie heute Demokratien schrittweise in befehlerische Staatsformen übergehen müssen. Am Ende einer solchen Entwicklung steht irgendwann der autoritäre Überwachungsstaat, in dem es keine Freiheit des Einzelnen gibt, weil ihm ein verantwortungsvoller Umgang mit der Freiheit weder angelernt wurde noch zugetraut werden kann.

Die pandemische Notlage erreicht unsere westliche Welt in einem heiklen Entwicklungsstadium, denn im Überangebot von digitalen Medien und Informationsquellen überfordert das zeitgleiche Eintreffen und die häufige Ununterscheidbarkeit von wahren und unwahren Behauptungen unsere Meinungs- und Entscheidungsfreiheit.

Da uns das Virus stets einen Schritt voraus ist, kann gesichertes Wissen erst nach und nach bereitgestellt werden, viel zu langsam im Vergleich zur Flut an Vermutungen und Gerüchten, die täglich in die Köpfe der Menschen gelangen. Das Recht des Einzelnen auf eigene Meinung wird so zu seinem vermeintlichen Recht auf eigene Fakten.

Der Wissenschaft wird nicht mehr die Zeit zugestanden, die sie benötigt, um Erkenntnisse sorgfältig zu prüfen. Unablässig verlangt die Hyperinformationsgesellschaft nach neuen Ergebnissen, seien sie noch so wenig aussagekräftig, und torpediert diese sofort mit Gegenthesen.

Faktisches Wissen, persönliche Freiheit

Eine Kakofonie an Wissen, Unwissen und Halbwissen entsteht. Die vorhin genannten Parameter der Freiheit sind in diesem Lärm kaum noch herauszuhören. Doch sie haben nach wie vor Bestand. So mühsam das Herausfiltern von Stichhaltigem sein mag, so schwer es ist, in der Pandemie nüchterne Vernunft und moralische Integrität zu bewahren, es ist nach wie vor die Voraussetzung für individuelle Freiheit.

Trotz all des Chaos kristallisiert sich durch Forschungsergebnisse nach und nach Wissen heraus. Widerwillig muss dann beispielsweise einer wie ich, der freies Atmen und freie Sicht durch seine Brillengläser liebt, zur Kenntnis nehmen, dass das Tragen einer Schutzmaske Menschen vor Ansteckung schützt.

DER STANDARD

Ein freischaffender, selbstständiger Künstler wie ich, der seine Tätigkeit liebt, muss hinnehmen, dass sie nur mehr unter Einschränkungen, zeitweise gar nicht möglich ist. Er liest zwar in Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dass jeder Mensch das Recht hat, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, doch schon der übernächste Artikel sagt, dass er Beschränkungen unterworfen ist, um die Achtung der Freiheiten anderer zu sichern und den Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohles zu genügen. Ich darf, erkenne ich Freiheit als das an, was sie ist, andere nicht durch meine Freiheitsausübung einengen und gefährden.

Verantwortung

Wie sieht es im Rahmen einer solchen Analyse mit den individuellen Freiheiten der Impfgegner aus? Inwieweit erfüllen sie die genannten Kriterien der Freiheit, handeln sie verantwortungsvoll, bewusst im Sinne der Allgemeinheit? Liegen ihrer Entscheidung logische, rationale Argumente zugrunde?

Bei allem Verständnis dafür, dass sie aufgehört haben, der Politik zu vertrauen, überspannt ihre Einstellung den Freiheitsbegriff. So essenziell eine skeptische Grundhaltung allem Diktat gegenüber ist, die Gründe, die im jetzigen Fall gegen das Impfen sprechen, können dem angesammelten Wissen und den milliardenfachen Erfahrungen mit den gängigen Impfstoffen zu wenig Rationales, Vernünftiges, Plausibles entgegensetzen.

Faktisches Wissen darf im Zusammenhang mit persönlichen Freiheiten nicht ignoriert werden, auch ist es moralisch nicht vertretbar, den Schutz vor schweren Covid-Verläufen absichtlich abzulehnen. Eine solche Entscheidung geht zulasten des Pflegepersonals, das in Spitälern und Intensivstationen jene Arbeiten erledigt, die nur so wenige von uns mehr machen wollen.

Die Schuld für das trotz Pandemieerfahrung immer schlechter ausgestattete Gesundheitswesen muss der Staat auf sich nehmen, daran besteht kein Zweifel. Doch diese Tatsache entbindet die einzelnen Staatsbürger nicht ihrer Pflicht, im Hier und Jetzt Verantwortung für ihre Freiheitsausübung zu übernehmen.

Vielleicht muss diese Verantwortung nicht in Form von Impfbereitschaft getragen werden? Statt einer Impfung gibt es andere, deutlich kompliziertere, langwierige, kostspielige Wege, sich und andere zu schützen: die freiwillige Isolation, das ständige Tragen der Schutzmaske und regelmäßiges Testen auf eigene Kosten in Verbindung mit einer ganzheitlich auf die Gesundheit ausgelegten Lebensführung. All dies bringt aber ein behutsames, abgekapseltes Leben jenseits herkömmlicher Freiheit mit sich, das nur die wenigsten bereit sind, in Kauf zu nehmen. Die restlichen Impfgegner haben den Freiheitsbegriff nicht in vollem Umfang durchdacht. (Hans Platzgumer, ALBUM, 18.12.2021)