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Gnadenlose Detailversessenheit: Heimito von Doderer vor "seiner" Strudlhofstiege. Das Bild entstand im Jahr 1958.

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Die Strudlhofstiege ist einer der charmantesten und herausragendsten Romane der 1950er-Jahre mit zwei Handlungsschwerpunkten, die vom Autor vor und nach dem Untergang der K.-u.-k.-Monarchie gesetzt wurden. Benannt nach einem idyllischen, vom Architekten Theodor Johann Jäger geplanten und am 29. 11. 1910 eröffneten Verkehrsweg zwischen Boltzmann- und Liechtensteinstraße, ist die Jugendstilanlage zu jeder Jahres-, Tages- und Nachtzeit einen Besuch wert.

Wer fern davon wohnt, findet in der historischen Wien-Karte aus dem Jahr 1915 in der ästhetisch-haptisch gelungenen Jubiläumsausgabe des Romans Aufschluss – eine formidable Idee, die von Stefan Wintersteins eingebettetem Text bereichert wird.

Das Lichtental, in dem Doderer gerne flanierte, ist eine einst ärmliche Gegend, die Geschichte atmet. Und in der Porzellangasse lag das Gebäude der "Tabakregie", das auf den Gründen der namensgebenden Teller-Manufaktur errichtet wurde, die nun im Augarten beheimatet ist. Beide Orte kommen im Roman vor, im Park lagen jene Tennisplätze, auf denen Doderer ein humorprasselndes Fegefeuer der Eitelkeiten abbrennen lässt.

Heimito von Doderer, "Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre". Jubiläumsausgabe mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann und einem topografischen Beitrag von Stefan Winterstein. 28,90 Euro / 920 Seiten. C. H. Beck, München 2021
Cover: C.H. Beck

Das rund 900-seitige urbane Epos des vor 55 Jahren, am 23. Dezember 1966, verstorbenen Autors enthält fein gewobene, facettenreiche und liebevoll ausgestattete Episoden, in denen Doderer selbst in dreierlei Gestalt auftaucht: als distanziert-gereifter, früh pensionierter Sektionsrat Geyrenhoff, als der unreife, aber gebildete Jungspund René von Stangeler und als der misogyne Kajetan von Schlaggenberg. Letzterer ist – nomen est omen – ein Mann mit düsteren Neigungen, das Alter Ego trägt biografische Züge. Das in den Dämonen, Doderers Opus magnum, mittelalterlich eingewobene Thema gibt Aufschluss über des Autors Praxis mit der Samtpeitsche.

Orientierungssinn

Die Strudlhofstiege bietet Lesegenuss und Zerstreuung, verlangt aber Durchhaltevermögen und Orientierungssinn. Schuld daran ist die Vielfalt der Figuren, die Doderer selbst als "Flohzirkus" bezeichnete. Biografisch Geschulte erkennen Familienangehörige, wie das tragische Schicksal der Etelka zeigt, das im Budapester Suizid endete, sowie Doderers erste Gattin Gusti Hasterlik, Vorbild der klugen Grete Siebenschein.

Im Finale des Romans taucht der Autor sarkastisch in die "Dienstpragmatik" ein und konstatiert einen "Übergenuss" an Glück des simpel gepolten Majors Melzer. Jener Romanheld, der dem Werk den verlagsseitig gewünschten Untertitel "Melzer oder die Tiefe der Jahre" lieferte, steht nicht stets im Zentrum der Abläufe. Nebenstränge betreffen einen seltsam anmutenden Tabakschmuggel der halbseitig ins Kriminelle abgleitenden Pastré-Zwillinge.

Kriegsdienst

Wer in Doderers Welt des ewigen Sommers am Alsergrund eintaucht, wird sich kaum vorstellen können, dass der Autor einige Passagen in Gefechtspausen im Zweiten Weltkrieg verfasste. Daniel Kehlmann schreibt im lesenswerten Nachwort zur Jubiläumsausgabe, dass über Doderers Kriegsdienst wenig bekannt ist.

Wolfgang Fleischers Biografie Das verleugnete Leben bringt Aufschluss darüber, dass der kriegsmüde, neuralgiegeplagte und vom "Reichsgedanken" geläuterte Autor, der als 37-Jähriger der NSDAP beigetreten war, als Bodenoffizier der Luftwaffe (Hauptmann) zeitweise an den Romanen feilte. Der Autor blendete in der Strudlhofstiege Jahrzehnte zurück in eine vermeintlich goldene Ära und besuchte vor der Publikation die Orte des Geschehens wiederholt.

Doderer, der 1896 von jenem evangelischen Pfarrer Dozent Paul von Zimmermann getauft wurde, der Hans und Grete Kelsen im Jahr 1912 unweit der Strudlhofstiege traute, wandte sich ab 1940 unter Einfluss des Paters Ludger Born dem Katholizismus zu. Hier stand er unter Einfluss der bayerischen Geliebten Maria (Mienzi) Thoma, die mit dem Autor Ludwig Thoma verwandt war und die seine zweite Frau wurde. Lebenslang beschäftigte den Autor die gescheiterte Beziehung zur klugen Gusti (Auguste) Hasterlik, seiner ersten Gattin, die jüdische Wurzeln hatte.

Versunkene Welt

Im Roman wollte "René von Stangeler" der in die USA emigrierten, enttäuschten Partnerin über den Ozean weg seine Unreife zugestehen: Anspielungen über den Beziehungskrieg entspringen dieser Selbstanalyse, welche die Schranke zur Reue nicht überschritt. Die Hasterlik-Schwestern waren wenig begeistert über Doderers Versuch, eine Welt "versunkener als jene Alexanders des Großen" zu beschreiben.

Doch Meinungsbildner wie Hilde Spiel und Hans Weigel lobten Doderers Werk überschwänglich, Marcel Reich-Ranicki nahm das Werk als "Panoramaroman" in den Kanon auf. Die Börne-Preisträgerin Eva Menasse empfiehlt den kauzigen Autor und Bogenschützen, dem sie einen schönen Bildband widmete. Die Literatin verfasste das Nachwort für die Neuausgabe von Doderers Spätwerk Die Wasserfälle von Slunj.

Dank Stefan Wintersteins topografischer Hinweise werden Orte der Handlung fotografisch sichtbar, wie die Konditorei in der Alserbachstraße, in der René seine Liebe Paula traf. Heute residiert dort – makabererweise – ein Bestattungsunternehmen.

Manche Episoden laden zu weiteren Recherchen ein. Eine davon betraf Doderers Kriegskameraden und Freund Ernst Pentlarz, der einst in der Porzellangasse in einem der sogenannten Miserowskyschen Zwillinge (einem Doppelhaus aus der Gründerzeit) wohnte und mit Doderers späterer Gattin Gusti Hasterlik liiert war. Der sehnige Autor spannte dem "kleinen E. P." im Juli 1921 die Freundin aus, die sommerliche Eroberungsszene ist in der Strudlhofstiege verewigt, sie spielte neben Hans Kelsens Wohnhaus in der Wickenburggasse.

Eva Menasse, "Heimito von Doderer". 22,– Euro / 58 Abbildungen / 88 Seiten. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2016
Cover: Deutscher Kunstverlag

Wegen der Identität der Initialen und der Anspielung auf die Körpergröße wird mitunter Milena Jesenskás Ehegatte Ernst Polak in der Strudlhofstiege als "E. P." identifiziert, so etwa von Milena-Biografin Alena Wagnerová. Aber Doderer, der Polak aus dem Café Herrenhof kannte, meinte den anderen Ernst, wie die "Tangenten" von 1941 beweisen.

Die Polaks (Milena und Ernst) wohnten bis 1925 in der Lerchenfelder Straße, sodass auch die Alsergrunder Adresse im Roman nicht auf Polak passen würde. Allerdings versetzte Doderer literarisch die Schauplätze. Die Wohnung seiner Schwiegereltern Hasterlik in der Wickenburggasse wanderte zum Althanplatz (Julius-Tandler-Platz) ins Haus der "Mary K.".

Gemischte Gefühle

Rechtsanwalt Ferry Siebenschein, eine wichtige Figur in Doderers Strudlhofstiege, war nach dem Vorbild des vom Autor geschätzten Schwiegervaters und Zahnarztes Dr. Paul Hasterlik gezeichnet. Obwohl der kunstaffine Doktor, der Doderers Freund Gütersloh Bilder abkaufte, die Ehe Doderers mit Tochter Gusti scheitern sah, las er alle vor dem Krieg erschienene Texte des Autors mit Begeisterung und Lob. Die formelle Scheidung im Jahr 1938 ließ sich Doderer abringen, ehe Gusti emigrieren konnte; ihr lebensfroher Vater Paul blieb in Wien und wurde 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert.

Nach dem Weltkriegsinferno kehrte Doderer mit gemischten Gefühlen heim. Nach Zahlung von Sühneabgaben und "Entnazifizierung" durfte der abgemagerte Aristokratensohn weiterpublizieren. In dieser Ära gelang ihm allerdings eine disziplinierte Meisterleistung, indem er aus den vielen Patchwork-Flicken seiner Aufzeichnungen dank eines Reißbretts und Plans einen konsistenten Roman schuf.

Die Alsergrunder Strudlhofstiege, die bereits dreimal physisch renoviert wurde (1962, 1986, 2008) und die als Romantitel 1951 erstmals bei Biederstein-Beck erschienen ist, erstrahlt nun in der Jubiläumsausgabe in einem neuen Glanz voller Retrocharme. (Gerhard Strejcek, ALBUM, 18.12.2021)