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Das erfolgreiche Gebäck ist ein Produkt der Zwischenkriegszeit. Der tatsächliche Durchbruch gelang dem Panettone erst in Zeiten des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg.

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Mehr noch als anderswo ist die Vorweihnachtszeit in Italien die Zeit der Schachtelberge – Panettone-Pyramiden, wohin man blickt. In jedem Supermarkt und Feinkostladen von Sizilien bis Südtirol türmen sich bunte Schachteln mit, je nach Zielkundschaft, wechselnder Aufmachung. In Supermärkten wie Despar oder Coop etwa dominieren, genau wie beim Autogrill, die grellbunten Boxen bekannter Marken wie Motta, Alemagna, Bauli oder Tre Marie.

Die großen Discounter-Ketten indes präsentieren Eigenmarken mit goldfarbenen Sternen und Engeln darauf, während exklusive Feinkostläden oder Nobelsupermärkte wie Eataly auf Recyclingpapier, Zwirn und Retrodesign setzen. Und dann sind da noch die Starköche und -konditoren, die seit einigen Jahren und in wachsender Zahl Panettoni anbieten. Dass Letztgenannte ausschließlich aus besten Zutaten und keinesfalls anonym, seelenlos und industriell am Fließband, sondern so wie in den vermeintlich guten alten Zeiten Stück für Stück einzeln, handwerklich und mit viel Liebe gefertigt sind, versteht sich da von selbst.

Bahnbrechende Erfindung

Doch in Wahrheit ist der Panettone gar nicht so traditionell, wie man glauben könnte. Tatsächlich entstand er erst in der Zwischenkriegszeit. Und zwar als Industrieprodukt. Denn obgleich süßes Brot zu Weihnachten bereits seit Jahrhunderten gebacken wurde, so war es laut Historikern erst der Mailänder Bäcker Angelo Motta, der im Jahre 1919 auf die Idee kam, dem damals in seiner Heimatstadt weitverbreiteten, flachen, fladenartigen und sehr kompakten Teiggericht namens Panettone ("großes Brot") mit Sauerteighefen zu mehr Volumen zu verhelfen und es mit kandidierten Früchten aufzupeppen.

Somit darf Motta wohl als wahrer Vater des modernen Panettones gelten. Bereits wenige Jahre nach seiner bahnbrechenden Erfindung eröffnete er in Mailand eine Art Panettone-Fabrik, in der das erfolgreiche Gebäck von nun an am Fließband erzeugt wurde. Konkurrenz machte ihm bald darauf sein Kollege Gioacchino Alemagna, der gleichfalls in der lombardischen Hauptstadt eine industrielle Panettone-Produktion aus dem Boden stampfte. Beide Marken bestehen bis heute.

Geschichte mit Haken

Somit ist auch eine der vielen Legenden widerlegt, die man sich in Italien über die Weihnachtsbäckerei erzählt. Jene nämlich, dass der österreichische Reichsgraf Karl Ludwig von Ficquelmont (1777-1857), einst Gouverneur von Mailand, seinem Staatskanzler, dem Fürsten von Metternich, alljährlich einen Panettone zum Weihnachtsfest schenkte. Damit würde Feldmarschall Ficquelmont in Bezug auf den Erfolg der Weihnachtsbäckerei eine ähnlich bedeutende Rolle zukommen wie seinem ranggleichen Kollegen und Landsmann Joseph von Radetzky, der ja – wiederum nur laut Legende – einst das gleichfalls aus Mailand stammende Schnitzel in gewisser Weise als Kriegsbeute nach Wien verschleppte.

Abgesehen davon, wie unwahrscheinlich es ist, dass sich der Kriegsherr und Politiker Ficquelmont bei dem damals bereits greisen Metternich mit italienischem Kuchen hätte beliebt machen wollen, hat die Geschichte noch einen weiteren, viel wesentlicheren Haken. Denn zu Lebzeiten beider Herren, also Mitte des 19. Jahrhunderts, war der Panettone eben nicht viel mehr als ein großformatiges nacktes Teigding, das man sich vorstellen kann wie eine ligurische Focaccia oder wie ein türkisches Fladenbrot aus Ottakring. Also nicht gerade dazu geeignet, um sich bei einem Vorgesetzten und Reichskanzler einzuschleimen.

Handwerkliche Form

Wenngleich der industrielle Panettone in seiner heutigen Form bereits in der Zwischenkriegszeit entstand, so gelang ihm der tatsächliche Durchbruch erst in Zeiten des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg. Laut dem Historiker Alberto Grandi symbolisierten damals sowohl Kuchen als auch Schachtel für etliche Italiener und deren ausgewanderte Familienangehörige, etwa in Südamerika (wo der Panettone mancherorts bis heute genauso populär ist wie in Italien), die moderne Weihnachtsbäckerei schlechthin.

"Zu der Zeit war industrielle Fertigung noch nicht negativ behaftet", sagt Grandi, "für viele Menschen stand das standardisierte und lange haltbare Produkt in seiner hübschen Verpackung, das noch dazu aus dem modernen, schicken und wirtschaftlich so erfolgreichen Mailand kam, für eine bestimmte Form des Wohlstands. Und an diesem konnte man, durch den Erwerb einer glamourös-bunten Box um wenig Lire wenigstens ein bisschen teilhaben."

Erst Jahrzehnte später, also im Laufe der 1990er-Jahre, so der Historiker, hätten etliche kleinere Pasticcerie damit begonnen, Panettoni auf handwerkliche Art zu backen. Was Grandis Aussage bekräftigt, dass die angeblich so traditionsbeladene Weihnachtsbäckerei in ihrer handwerklichen Form in Wahrheit nicht älter ist als eben höchstens 40 Jahre.

Panettone-Vielfalt
Foto: georges Desrues

Regeln und Rezepte

Doch was genau unterscheidet einen händisch zubereiteten von einem industriell hergestellten Panettone? Dazu ist zu wissen, dass die Mailänder Handelskammer im Jahr 2005 ein paar Regeln festgesetzt hat, die alle Produkte erfüllen müssen, die sich Panettone nennen wollen. Und die da wären: Mehl, Zucker, frische Eier, Butter (mindestens 16 Prozent), Rosinen und kandierte Früchte, natürliche Hefe und Salz.

Das ist ja immerhin etwas. Besagt es doch wenigstens, dass etwa pflanzliche Industrieöle oder Eipulver verpönt sind. Unterschiede finden sich freilich nach wie vor und abgesehen von Haltbarkeit (Stichwort Konservierungsstoffe) und Preis (Stichwort Handarbeit) auch bei den Zutaten. Die Qualität der Butter ist natürlich nicht immer dieselbe. Jene der Rosinen und kandierten Früchte auch nicht. Und ob man beispielsweise echte Vanille dazu tut oder aber Vanilleextrakt, macht mit Sicherheit auch einen Unterschied.

Lange Produktionsdauer, höchste Qualität

Am meisten aber unterscheiden sich die industrielle und die handwerkliche Arbeit bei den Gärzeiten. Zwar muss auch die Industrie natürliche Hefen einsetzen, darf aber auch Bierhefe dazutun. Dadurch wird der Gärvorgang naturgemäß reduziert, in der Regel auf zwölf Stunden. Wer jedoch auf höchste Qualität setzt, verwendet ausschließlich natürlichen Sauerteig und arbeitet mit bis zu drei Gärvorgängen, wodurch die Produktionszeit zwischen 30 bis 72 Stunden dauern kann.

Das alles bedeutet allerdings nicht, dass die Italiener den industriellen Supermarktpanettone prinzipiell verschmähen. Wie das nämlich so ist mit Weihnachtsbäckereien, verbinden zumindest jene unter ihnen, die vor den 1990er-Jahren geboren sind, den Geschmack mit nostalgischen Erinnerungen an den Panettone ihre Kindheit. Und damals gab’s eben nur die ursprüngliche, industrielle Variante. (Georges Desrues, 18.12.2021)