Die Identität des Berufsmenschen, der hart arbeitet und viel aushält, wird hart angegriffen.

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Rund um den Jahreswechsel haben gute Tipps zum persönlichen Innenputz immer Hochkonjunktur. Man soll ja Unbrauchbares und Belastendes nicht ins neue Jahr mitschleppen und quasi mit dem Mitternachtsschlag zu Silvester wie neu geboren sein.

"Ballast abwerfen" (Brand eins) titeln jetzt Magazine. Anleitungen, sich "leichter" zu machen, finden sich all überall, und irgendwie beschleicht einen das Gefühl, man sollte sich auch was überlegen. Auch wenn das oft so daherkommt, als müsste man sich im ganzen Selbstoptimierungswahn jetzt sofort vor dem Jahreswechsel auch noch einmal gründlicher auf Vorderfrau bringen. Stress!

Aber bitte sehr: Zumindest darüber reden sollte man können, dass man nachgedacht hat – über die ganze Sache der Standortbestimmung und das wohlgeordnete Reisegepäck ins neue Jahr.

Neue Arbeitswelt

Damit beschäftigen auch Magazine in den USA ihre Leserinnenschaft – heuer besonders intensiv, nachdem das Phänomen der "Great Resignation" im Zuge der Pandemie auf die Welt gekommen ist. Millionen haben ihre Jobs einfach hingeschmissen, weil sie ihr Leben nicht mehr jeder Arbeitsbedingung opfern wollen, was Unternehmen in arge Nöte brachte. Der Atlantic beispielsweise versucht es mit Nachdenkhilfen für die richtigen Fragen an sich selbst so: Wer wäre ich ohne die Tretmühle meines geliebten Jobs? Worum würde ich mich kümmern ohne den durch Homeoffice um täglich noch mehr Stunden erweiterten Fluss des ewigen Produktivitätsimperativs? Wofür würde ich mich engagieren, kreisten meine Gedanken nicht jeden Tag um meine vielen Agenden oder Entfaltungsmöglichkeiten im Beruf? Wohin würden dann meine Zeit und meine Kraft fließen?

Gefährliche Anleitungen für ein System, das funktioniert, weil ein guter Teil sich vermeintlich oder tatsächlich dieser totalen Leidenschaft für den Job hingibt. Heuer hat ein neuer Begriff diesen Innenputz bereichert. Bis jetzt ging es um "Self Care" (Selbstfürsorge). Jetzt geht’s um "Recuperation", also die Rückeroberung dessen, was als Lebenssehnsucht sehr vieler Menschen über dieser Great Resignation schwebt: die Vorstellung vom wahren, besseren Leben, in dem der Job nur ein kleinerer Teil ist. Die Identität des Berufsmenschen, der hart arbeitet und viel aushält, wird hart angegriffen.

Das trifft den Nerv der Zeit und das ist eine beunruhigende Nachricht für Führungskräfte, die auch in Österreich vielfach von Wünschen nach Reduktion der Arbeitszeit berichten. Gut möglich, dass heuer der saisonale Innenputz ein Symptom des großen Umbruchs wird. Das wissen wir aber noch nicht. (Karin Bauer, 19.12.2021)