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Tausende Säcke voller Aktenschnipsel der Stasi warten seit 1989 auf ihre Rekonstruktion.
Foto: Picturedesk/Bernd Wüstneck

Das Regime der DDR klammerte sich im Herbst 1989 noch an die Macht, da lief die Aktenvernichtung schon auf Hochtouren. Erich Mielke, der Minister für Staatssicherheit, hatte die großangelegte Spurenverwischung angeordnet: Dokumente, die die umfangreichen Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen durch die Stasi belegten und Informationen über ihre Mitarbeiter, Spione und Informanten enthielten, sollten beseitigt werden – eine Herkulesaufgabe für einen Repressionsapparat dieses Umfangs.

Danach war in den Dienststellen im Eiltempo zerrissen, geschreddert und verbrannt worden, bis aufgebrachte Bürger die Aktenvernichtung wenige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer stoppen konnten. Vieles war schon verloren, immerhin rund 15.000 Säcke voller Papierschnipsel konnten vor der endgültigen Vernichtung gerettet werden. Diese Fragmente aber wieder lesbar zu machen erwies sich als gewaltige Aufgabe.

Gigantisches Stasi-Puzzle

Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde damit begonnen, die Stasi-Schnipsel manuell wieder zusammenzusetzen. "Mir war damals sofort klar, dass das von Hand nicht wirklich machbar sein wird", sagt Bertram Nickolay. Ließen sich die zerstörten Dokumente virtuell rekonstruieren? Nickolay, Ingenieur am Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) in Berlin, beschäftigte sich schon in den 1980er-Jahren mit der Entwicklung bildauswertender Systeme. Heute sind Anwendungen aus diesem Bereich unter dem Begriff "maschinelles Sehen" aus Industrieproduktion, Verkehrsüberwachung, Robotik oder Sicherheitstechnik nicht mehr wegzudenken.

"Wir konnten sogar behilflich sein, eine Mordserie aufzuklären, wo geschredderte Papiere Beweismittel waren", sagt Bertram Nickolay.
Foto: Fraunhofer IPK/Katharina Strohmeier

Neben der beruflichen Herausforderung motivierte Nickolay auch die Vorstellung, mithilfe einer neuen Technologie bei der Aufarbeitung der Verbrechen des Unrechtsregimes mithelfen zu können. Der gebürtige Saarländer hatte keine familiären Bezüge zur DDR, lernte aber schon als Student in Westberlin viele Bürgerrechtler kennen. Seine Freundschaft zum Schriftsteller Jürgen Fuchs, der als Oppositioneller zum Opfer des Stasi-Terrors geworden und 1977 aus der DDR zwangsausgebürgert worden war, bestärkte ihn. "Das hat mir den Blick für das Thema, den ich sonst vermutlich als Ingenieur nicht so gehabt hätte, geweitet", sagt Nickolay.

Hürden und Grenzen

Bis zur Umsetzung der Idee sollte es aber Jahre dauern: Technische Herausforderungen, hohe Entwicklungskosten und politische Abwägungen verzögerten das Projekt, das Nickolay und sein Team vom Fraunhofer-IPK den Behörden 1996 vorschlugen. "Die erste Machbarkeitsstudie gab es 2003, die eigentliche Pilotphase hat erst 2007 begonnen", erzählt Nickolay. "Dabei konnten wir den Inhalt von 23 Säcken erfolgreich rekonstruieren."

Um aus den Unmengen an Schnipseln wieder lesbare Dokumente machen zu können, müssen die Fragmente zunächst eingescannt werden. Dann wird virtuell gepuzzelt: Bis zu 80 unterschiedliche Merkmale lassen sich auf einem einzelnen kleinen Papierstückchen ausmachen, Form, Farbe, Schrift, Linierung, ein handschriftlicher Vermerk oder ein Stempel – jedes Detail zählt. Mithilfe komplexer Algorithmen werden die gescannten Teilstücke nach ihren Kennzeichen sortiert, bei großer Übereinstimmung wird dann virtuell nach Partnerteilchen gefahndet. Passen zwei Schnipsel zusammen, werden sie digital verschmolzen und bilden ein neues, größeres Fragment im historischen Puzzle.

Allerdings stieß die "ePuzzler" genannte Technologie auf Hürden: Die Software erfüllte ihre Aufgabe gut, aber es fehlte an passenden Scannern, mit denen sich Millionen fragiler Schnipsel einfach und effizient digitalisieren lassen. Die Entwicklung einer maßgeschneiderten Lösung kostet viel Geld, der deutsche Bundesrechnungshof warnte vor unkalkulierbaren Kosten – und das Projekt wurde 2015 vorerst gestoppt. Inzwischen gibt es aber neue Fortschritte, sagt Nickolay. "Im Moment laufen intensive Verhandlungen, wie es weitergeht."

Leibniz’sches Zettelchaos

Die Stasi-Akten sind indes längst nicht mehr das einzige Einsatzgebiet der Technik. Seit den ersten Medienberichten über die Berliner Entwicklung ist Nickolay mit Einladungen aus aller Welt konfrontiert: Zerstörte Dokumente, die für die Öffentlichkeit relevant sind, gibt es überall.

Die Anfragen könnten unterschiedlicher kaum sein: Sie kommen von Ermittlungsbehörden, aus Bibliotheken und Gedenkstätten, von Historikern und Archäologen. So wurde die Methode zur Rekonstruktion eines wertvollen armenischen Gebetbuchs aus dem zehnten Jahrhundert genutzt, aber auch dazu, mehr Ordnung ins gewaltige Zettelchaos des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz zu bringen. "Wir konnten sogar behilflich sein, eine Mordserie aufzuklären, wo geschredderte Papiere Beweismittel waren", sagt Nickolay. Details dürfe er dazu nicht nennen.

Rekonstruierte Handschriften des Philosophen, Mathematikers, Diplomaten, Theologen, Geologen, Technikers, Juristen und Historikers Gottfried Wilhelm Leibniz.
Foto: GWLB Hannover & MusterFabrik Berlin

Auch mehrere postdiktatorische Staaten in Osteuropa und Südamerika bekundeten Interesse an der Technologie. Ähnlich wie bei den Stasi-Hinterlassenschaften ging es um die Aufarbeitung der gewaltvollen Vergangenheit durch die Rekonstruktion zerstörter Unterlagen. Dass daraus letztlich wenig wurde, hatte eher politische denn technische Gründe, sagt Nickolay: "Mit den jeweiligen Archiven entstand eine gute Zusammenarbeit, aber sobald es losgehen sollte, wurden die Projekte politisch ausgebremst. Wenn wir mit den Versuchen angefangen haben und zeigen konnten, die Technologie funktioniert, ging es auf einmal nicht weiter." Die Kluft zwischen politischen Bekenntnissen zur Vergangenheitsbewältigung und dem Willen, tatsächlich Licht ins unangenehme Dunkel zu bringen, kann keine Technologie überbrücken.

Zerstörte Zeugnisse

Bei der Schließung anderer Lücken kann der ePuzzler dagegen helfen. In Argentinien wird die Technologie aktuell zur Rettung einer einzigartigen Sammlung jüdischer Kulturgüter und Zeugnisse aus der Shoah eingesetzt: Sie befindet sich im Archiv der Jüdischen Gemeinde Argentiniens in Buenos Aires, auf die 1994 ein verheerender Terroranschlag verübt wurde. 85 Menschen wurden bei dem bis heute nicht vollständig geklärten Bombenanschlag getötet, das Gebäude wurde fast vollständig zerstört. Auch das Archiv und die Bibliothek lagen in Trümmern, mit ihnen unzählige Schriftstücke in jiddischer Sprache, die vor den Nationalsozialisten aus Osteuropa gerettet werden konnten.

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Zerstörte Dokumente, die für die Öffentlichkeit relevant sind, gibt es überall.
Foto: Picturedesk/Stephanie Pilick

Viele Bücher und Handschriften waren verloren, andere zerfetzt, fragmentiert und kaum noch lesbar. Darunter sind etwa Dokumente aus dem Nachlass von Tania Fuks. Die 1896 in der heutigen Republik Moldau geborene Journalistin, die sich in der jüdischen Arbeiterbewegung engagierte, berichtete für jiddischsprachige Zeitungen über den deutschen Überfall auf Polen und die Sowjetunion und die Lage der Jüdinnen und Juden in den besetzten Gebieten.

Fuks überlebte das Czernowitzer Ghetto und ein nationalsozialistisches Lager in Transnistrien, wie durch ein Wunder blieben auch ihre Aufzeichnungen aus dieser Zeit erhalten und gelangten nach dem Krieg in das Archiv in Buenos Aires. "Mit dem Anschlag wurde eigentlich ein zweites Mal versucht, ihre Identität zu zerstören", sagt Nickolay. "Wir haben das große Ziel, ihre Dokumente zu rekonstruieren und als Bücher wieder zugänglich zu machen." (David Rennert, 18.12.2021)