Von allen Anhängern fordert Donald Trump einen Loyalitätsbeweis ein: Sie müssen beschwören, dass ihm die Wiederwahl gestohlen wurde.

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Verschwörungstheorien sind Erklärungsmuster, die hinter zufälligen Ereignissen und Einzelentscheidungen einen großen Plan wittern – und sich meist leicht widerlegen lassen. Aber das ändert nichts daran, dass es Verschwörungen immer schon gab und weiterhin geben wird – und dass gerade jene Kreise, die hinter allem sinistre Kräfte vermuten, selbst zu solchen Komplotten neigen.

In den USA könnte gerade eine solche Konspiration im Gang sein – eine, die das Ziel hat, die 230 Jahre alte Demokratie auszuhebeln und dafür zu sorgen, dass eine radikalisierte Minderheit mit einem diskreditierten Ex-Präsidenten an der Spitze in drei Jahren die Macht ergreift und diese nicht mehr abgibt. Sie läuft nicht im Geheimen ab, sondern im grellen Tageslicht, und sie kommt fast täglich ihrem Ziel näher. Sie baut selbst auf einer Verschwörungstheorie auf, auf der großen Lüge der gestohlenen Präsidentschaftswahl, aber sie ist real.

In der jüngsten Ausgabe des US-Magazins The Atlantic hat der Starjournalist Barton Gellman die Ereignisse rund um den Sturm auf das Kapitol noch einmal analysiert und das Szenario detailliert beschrieben, das die USA 2024 erwartet: Donald Trump war am 6. Jänner viel näher am erfolgreichen Staatsstreich dran, als man damals ahnen konnte, und tut mithilfe seiner willfährigen Partei nun alles, damit der nächste Putsch im November 2024 nicht wieder scheitert.

Barton Gellmans Warnung

Gellmans erschreckende These beruht auf drei Argumentationssträngen:

Der Sturm auf das Kapitol war keine spontane Gewaltaktion, sondern ein von Trump-Getreuen geplanter Akt mit dem klaren Ziel, Joe Bidens Wahlsieg zu annullieren und Trump im Amt zu belassen.

In den wahrscheinlich wieder wahlentscheidenden Bundesstaaten Arizona, Pennsylvania, Georgia, Wisconsin und Michigan wird bereits der Boden dafür bereitet, dass deren Elektoren sich auch dann für den republikanischen Präsidentschaftskandidaten, der mit großer Wahrscheinlichkeit Trump heißen wird, entscheiden können, wenn ein Demokrat die Mehrheit der Stimmen erhalten hat.

Mit dem Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner wollten Trump-Anhänger die Bestätigung von Joe Bidens Wahlsieg verhindern. Sie scheiterten nur knapp.
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Und dahinter steht eine Massenbewegung von frustrierten Weißen, die nicht nur überzeugt sind, dass Trump der Wahlsieg gestohlen wurde, sondern die auch mit der Waffe in der Hand gegen ihre Feinde zu kämpfen bereit sind – Städter, Liberale und vor allem Minderheiten. Sie fürchten den "großen Austausch", ein Begriff, der von europäischen Rechtsextremisten übernommen wurde, der sie verdrängen und ihre Welt zerstören würde. Und über genügend Waffen, das weiß man, verfügen diese Menschen.

Unterwanderung der Demokratie

Gellman hat bereits im September 2020 Trumps Strategie, um auch im Fall einer Niederlage an der Macht zu bleiben, skizziert und vieles von dem vorweggenommen, was in den Monaten nach der Präsidentenwahl geschah. Er war damals nicht der Einzige, der vor der Unterwanderung der Demokratie warnte, und auch jetzt gibt es in den Medien und an den Universitäten zahlreiche Stimmen, die sich in Schreckensszenarien gegenseitig übertreffen.

Wer dies als Panikmache abtut, der folgt offenbar nicht den aktuellen Enthüllungen über die Hintergründe des 6. Jänner, in denen die engsten Trump-Berater eine Schlüsselrolle spielen. Wochenlang hatten sie versucht, über die Beamten und Politiker in den Bundesstaaten und die Gerichte, das Wahlergebnis umzudrehen. Doch das war ihnen nicht gelungen, und die Uhr tickte. Denn am 6. Jänner würde Vizepräsident Mike Pence vor beiden Kammern des Kongresses den Wahlsieg Bidens bestätigen – ein reiner Formalakt, zu dem er laut Verfassung verpflichtet war.

Mark Meadows’ Schlüsselrolle

Allen voran war es Trumps Stabschef Mark Meadows, der mit einer Gruppe von rechtsextremen Abgeordneten, darunter der prominente Jim Jordan, dies zu verhindern versuchte. Als Pence sich weigerte, blieb als letzte Option, die Kongresssitzung mit Gewalt zu unterbrechen und darauf zu setzen, dass die Parlamente in mindestens drei Bundesstaaten, die Biden knapp gewonnen hatte, neue Wahlleute einsetzen, die dann für Trump stimmen würden. Zumindest in Pennsylvania war dieser kleine Putsch bereits im Laufen. Mit dem Sturm auf das Kapitol sollte die Uhr gestoppt und Zeit gewonnen werden.

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Der Plan ging bekanntlich schief – aber nur knapp. Die Bilder der Gewalt schockierten selbst treue Trump-Loyalisten, die den Präsidenten anflehten, die Angreifer zurückzupfeifen. Vor dem offenen Staatsstreich schreckten auch Meadows und seine Verbündeten zurück, wie tausende Dokumente zeigen, die er vor kurzem dem Untersuchungsausschuss im Kongress zur Verfügung gestellt hat. Die Vorladung vor den Ausschuss ignoriert er hingegen so wie alle Trump-Berater und riskiert damit eine strafrechtliche Verurteilung.

Trumps Niederlage am 6. Jänner und in den Tagen danach schien vernichtend, aber sie war es nicht. Zwar verurteilten die führenden Republikaner sein Verhalten, aber sie bewahrten ihn im Senat vor der Amtsenthebung, die jede weitere politische Kandidatur verhindert hätte. Das republikanische Fußvolk zeigte sich von seiner Behauptung des großen Wahlbetrugs überzeugt. Es war diese fanatisierte Parteibasis, die in den folgenden Monaten den Grundstein für Trumps wahrscheinliches Comeback gelegt hat.

Donald Trumps Lackmustest

Denn angesichts dieser aufgebrachten Stimmung in der Partei brach der Widerstand gegen Trumps Verschwörungstheorie rasch zusammen. Das Bekenntnis zur gestohlenen Wahl wurde zum Lackmustest für alle republikanischen Politiker, die sich irgendwann einer Vorwahl stellen müssen. Aus seinem Exil in Florida begann Trump mit einer gezielten Kampagne gegen all jene Parteifreunde, die sich gegen ihn gestellt oder auch nur Biden zum Wahlsieg gratuliert haben.

Von der Handvoll an Abgeordneten, die für Trumps Impeachment gestimmt hatten, wurde Liz Cheney von ihrem Führungsposten im Kongress verjagt und könnte die nächste Vorwahl verlieren. Andere verzichteten von sich aus auf eine Wiederkandidatur.

Trumps größter Hass gilt den Gouverneuren und Innenministern in Georgia und Arizona, die die Mär von Wahlbetrug nicht unterstützt haben. Und wenn Trump die Präsidentschaftskandidatur 2024 anstrebt, woran derzeit fast niemand zweifelt, dann wird ihm das kein Republikaner verwehren können. Zu hoch ist seine Popularität in der Basis.

Viele regionale Maßnahmen

Von noch größerer Bedeutung sind die vielen regionalen Maßnahmen, mit denen die Republikaner sich gegen zukünftige Wahlniederlagen absichern wollen. Dank ihrer Erfolge bei vielen Lokalwahlen im vergangenen Jahr können ihre Abgeordneten in den meisten Schlüsselstaaten die Grenzen der Wahlbezirke bestimmen, die aufgrund der Volkszählung von 2020 neu gezeichnet werden müssen.

Das seit Jahrzehnten praktizierte Gerrymandering, mit dem die Stimmen zugunsten der Mehrheitspartei verteilt werden, kann nun ausgebaut werden, was den Republikanern bei den Zwischenwahlen im November 2022 mit großer Sicherheit die Mehrheit im Abgeordnetenhaus bringen sollte. Im Senat ist dies weniger klar. Allerdings haben die Republikaner dort aufgrund des Systems, das jedem Bundesstaat zwei Sitze gibt, einen massiven Vorteil.

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Neu aber sind Gesetze, die im Namen der Bekämpfung von Wahlbetrug geeignet sind, die Wahlbeteiligung bei Minderheiten und sozial Schwächeren, die meist für die Demokraten stimmen, zu senken. Das ist besonders empörend, weil es an die Unterdrückung der Schwarzen in den Südstaaten vor der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre erinnert.

Unabsehbare Folgen

Noch bedrohlicher sind die Bestimmungen, die den von Republikanern beherrschten Landesparlamenten in mindestens 15 Bundesstaaten die Oberaufsicht über die Präsidentenwahl geben, die bisher in der Hand der Exekutive war. Trump-treue Abgeordnete werden so 2024 das durchziehen können, was 2020 noch gescheitert ist: Trump zum Sieg verhelfen, auch wenn er die Wahl verliert. Sie können Briefwahlstimmen oder Ergebnisse aus den städtischen Wahlbezirken, die traditionell demokratisch wählen, für ungültig erklären. Damit wäre die amerikanische Demokratie endgültig ausgehebelt, mit unabsehbaren Folgen für das Land und die ganze Welt.

In einer Rede im Juli sprach Biden diese Gefahr konkret an, "Wir stehen vor der größten Prüfung unserer Demokratie seit dem Bürgerkrieg, und das ist keine Übertreibung", sagte er. Es sei nun Zeit, sich zu wehren.

Aber die Mehrheitspartei scheint beunruhigend gelassen auf diese Katastrophe hinzusteuern. Ein Bundesgesetz, das einheitliche Regeln für Wahlen einführen würde, scheitert am sogenannten Filibuster, jener veralteten Senatsregel, wonach 60 von 100 Stimmen für die meisten Entscheidungen notwendig sind. Das könnten die Demokraten mit ihrer knappen Mehrheit kippen, aber einige Senatoren wie Joe Manchin und Kyrsten Sinema weigern sich, am Filibuster zu rütteln. Und auch Biden schreckt davor zurück, obwohl er vor allem den Republikanern in die Hände spielt.

Supreme Court bleibt untätig

Auch auf den Obersten Gerichtshof können sich die Demokraten nicht verlassen. Eigentlich müsste der Supreme Court energisch gegen Wahlgesetze, die die Verfassung gefährden, vorgehen. Aber die konservative Richtermehrheit, die unter Trump noch gewachsen ist, stellt sich auf den Standpunkt, dass die Abwicklung von Wahlen Sache der Bundesstaaten sei.

Und in den dortigen Gerichten haben Trump-Loyalisten oft noch mehr Einfluss als in Washington. 2020 wiesen die Gerichte die völlig abstrusen Betrugsvorwürfe des Weißen Hauses zwar alle noch ab, aber gegen eine Gesetzgebung, die zukünftigen Betrug ermöglichen soll, schreiten sie nicht ein.

Und während Umfragen zeigen, dass 80 Prozent der Republikaner die Demokratie in Gefahr sehen, weil sie Trumps Lügen glauben, teilt nur rund ein Drittel der Demokraten diese Sorge. Vor allem auf der lokalen Ebene überlassen Demokraten ihren Gegnern das Feld. Trump-Loyalisten und rechtsradikale Gruppen wie die Proud Boys kandidieren für Schulbezirke, wo sie gegen progressiven Lehrstoff wie die "critical race theory" hetzen, und übernehmen die Macht in Wahlbezirken.

Die stärkste Radikalisierung findet in jenen Gemeinden statt, in denen die Gesellschaft multikultureller wird und sich konservative Weiße bedroht fühlen. Laut Gellman waren Bewohner aus solchen Regionen beim Sturm auf das Kapitol überrepräsentiert. Dieses Ereignis, das die meisten Amerikaner schockiert hat, wird von immer mehr Republikanern als legitimer Volksaufstand gegen eine Tyrannei gefeiert.

In einem weiteren Essay im Atlantic skizziert George Packer drei Zukunftsszenarien: Ein bewaffneter Bürgerkrieg sei unwahrscheinlich, vor allem bei einem legalen Staatsstreich durch Trumps Republikaner. Realistischer ist eine Entwicklung wie in Russland: Die Mehrheit reagiert mit Zynismus und verliert Vertrauen in die und Interesse an der Politik. Die dritte Option, eine breite Bürgerbewegung zur Rettung der Demokratie, ist derzeit nur eine vage Hoffnung. (Eric Frey, 18.12.2021)