Keine vier Straßenkilometer sind es, an denen das Schicksal des größten Wiener Bezirks Donaustadt hängt: So sieht man in der Stadt-SPÖ bevorzugt das Bauprojekt Stadtstraße. 3,2 Kilometer, vier Spuren, zwei Tunnels; "Gemeindestraße" nennt sie die Planungsstadträtin Ulli Sima (SPÖ) neuerdings gerne, um den Ball flach zu halten. "Autobahn!", rufen die Gegnerinnen und Gegner des Bauprojekts, das eine Straßenverbindung von der Südosttangente bis zur Seestadt Aspern herstellen soll.

Nicht nur dort, in einem der größten Stadterweiterungsgebiete Europas, stehe der Weiterbau auf dem Spiel: Insgesamt soll Wohnraum für rund 60.000 Menschen quasi in der Luft hängen, betont Sima. Nach der Absage des Lobautunnels durch Verkehrsministerin Leonore Gewessler (Grüne) vor zwei Wochen will sie die Stadtstraße unbedingt bauen. Diese sei genehmigt, auch die Gelder für den Bau sind beschlossene Sache, nun will man losstarten.

Nevrivy: "Hätte Areal schon räumen lassen"

Erste Baustellen für das Projekt sind seit dreieinhalb Monaten von Umweltaktivisten besetzt. Diese Situation ist für den bekannt wortgewaltigen SPÖ-Bezirksvorsteher Ernst Nevrivy nicht hinnehmbar. "Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich das Areal schon räumen lassen", sagte er dem STANDARD. Nachsatz: Das Vorgehen der Stadt mit Anwaltsbriefen an Besetzer sowie Unterstützer, die selbst noch nicht beim Protestcamp waren, unterstützt er dennoch. "Eine Zeitlang können wir ja das Gespräch noch suchen. Aber dass die Stadtstraße nicht gebaut wird, ist undenkbar für mich." Immerhin waren 2019 in der Donaustadt 84.000 Pkws gemeldet, das ist auch pro Kopf gesehen der Wiener Spitzenwert.

Erste kleine Baustellen der Stadtstraße sind seit mehr als drei Monaten besetzt.
Foto: imago images/SKATA

Stadtstraße um rund eine halbe Milliarde Euro

Kosten werden die 3,2 Kilometer wohl rund eine halbe Milliarde Euro. Viel Geld, das Kritiker lieber anderswo besser eingesetzt sehen würden: in mehr S-Bahnen, neuen Bim-Linien, Expressbussen und Radwegen. Immerhin leben im Bezirk jenseits der Donau seit April dieses Jahres bereits mehr als 200.000 Menschen. Das sind fast so viele wie in Linz. Allein in den letzten 20 Jahren kamen etwa 60.000 Bewohner dazu.

Und das signifikante Bevölkerungswachstum wird nicht aufhören: Nirgends wird so viel gebaut wie im 22. Bezirk, erwartet wird ein Plus von knapp 4.000 zusätzlichen Einwohnern pro Jahr. Dass nur an der Stadtstraße Wohnungen für 60.000 Menschen hängen, wie die SPÖ argumentiert, ist freilich nicht korrekt: Aktuell ist nur der Ausbau der Seestadt Nord mit Wohnungen für 17.500 Personen an die Stadtstraße als UVP-Bedingung geknüpft. Die Entwicklung tausender weiterer Wohnungen würde laut Sima aber ebenfalls den Anschluss an das höherrangige Straßennetz brauchen.

Einstöckige Supermärkte mit vielen Parkplätzen rundherum gibt es in der Donaustadt zuhauf.
Foto: Putschögl

Die ganze Nachkriegsgeschichte des 22. Bezirks, der in seiner jetzigen Form seit 1954 existiert, ist eine Geschichte des Siedlungs-, nicht des Städtebaus. Mehrere frühere Straßendörfer wie Hirschstetten, Breitenlee oder Aspern wurden Anfang des 20. Jahrhunderts nach Wien eingemeindet. Mit dem Siegeszug des Autos ab den 1950er-Jahren wurde begonnen, den weiten Raum zwischen diesen alten Dörfern mit Wohn-, aber auch sehr vielen Einfamilienhaussiedlungen aufzufüllen.

Sehnsucht nach Bau einer sechsten Donauquerung

Dabei ging man spätestens seit der Jahrtausendwende vom baldigen Bau einer sechsten Donauquerung auf Höhe der Lobau aus: Das war durchaus rational, denn unter rot-schwarzen und schwarz-blauen Bundesregierungen war kein Widerstand zu erwarten. Die Folge war ein zuletzt enthemmter Wohnbau in Essling und Breitenlee, die nur mit Bussen an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden sind. Mit Gewessler kam das Aus des Lobautunnels: Gegen diese Entscheidung will Wien mit Niederösterreich aber noch rechtlich vorgehen.

Mit der Seestadt Aspern wollte man erstmals so etwas wie eine Stadt innerhalb des Bezirks errichten: mit U-Bahn, breiten Gehsteigen, Mobilitätsangeboten wie Leihlastenrädern und einer belebten Einkaufsstraße. Die U2 fuhr ab 2013 noch vor den ersten Bewohnerinnen und Bewohnern in die Seestadt.

Um die Seestadt fertig bauen zu können, ist – jedenfalls laut gültigem UVP-Bescheid – ein Anschluss an das hochrangige Straßennetz nötig.
Foto: MA 18 / Christian Fürthner

Allerdings: Wiederholt wurde das Konzept "Öffis vor Wohnbau" bisher nicht. Die ersten Bewohner des Entwicklungsgebiets Berresgasse mit rund 3.000 Wohneinheiten, das einen Kilometer nördlich der U2-Station Hausfeldstraße errichtet wird, werden auf die neue Straßenbahnlinie 27 noch bis Herbst 2025 warten müssen: Hier gibt es sechs neue Stationen über die bestehende Strecke der Linie 26 ab Strebersdorf hinaus.

Die neue Straßenbahnlinie 27 soll die Stadterweiterungsgebiete nördlich der U-Bahn, Berresgasse und Heidjöchl, erschließen und im Norden der Seestadt enden.
Grafik: Stadt Wien

Auch anderswo hinkt der Ausbau der Öffis dem Wohnbau hinterher. Die Linie 25 soll später ebenfalls nach Aspern Nord verlängert werden, hier gibt es aber noch nichts Konkretes. Mehr als zwei Straßenbahnlinien gibt es aktuell nicht in der Donaustadt.

Für Wolfgang Orgler, den grünen Klubobmann im Bezirk, ist das angesichts der Verkehrsstaus in der Donaustadt unverständlich. "Wenn die Straßen verstopft sind, muss man Alternativen bieten." Ungeachtet dessen, dass die Stadtstraße auch unter grünen Verkehrsstadträtinnen mitentwickelt wurde, fordert er statt des Straßenvorhabens Schnellbusse auf bereits bestehenden Wegen, die nicht in jeder Station halten. Außerdem die Wiederinbetriebnahme der S80-Stationen Lobau und Hausfeldstraße sowie eine neue Bim 22 bis nach Groß-Enzersdorf.

"Überlegungen" zu neuer Straßenbahn nach Groß-Enzersdorf

Auch neue S-Bahn-Linien wie die Verlängerung der S45 vom Handelskai entlang der Donau bis nach Simmering schwebt den Grünen vor. Ein viergleisiger Ausbau der Ostbahnbrücke würde zudem weitere S-Bahn-Linien im Bezirk, etwa nach Süßenbrunn und Gerasdorf, ermöglichen.

Grafik: STANDARD

Durchaus realistisch ist für Bezirksvorsteher Nevrivy eine neue Straßenbahnlinie entlang der Bundesstraße 3 nach Groß-Enzersdorf. Er spricht hier von "Überlegungen" seitens der Stadt und der Wiener Linien. Für die Wiederinbetriebnahme der beiden S80-Stationen gebe es hingegen "eine klare Absage seitens der ÖBB". Er verweist aber auf den laufenden Ausbau der Bahnstrecke Richtung Bratislava.

85.000 Gratisstellplätze fallen mit Parkpickerl weg

In der verkehrsgeplagten Donaustadt stehen aber auch mit der Einführung des Parkpickerls ab März 2022 in ganz Wien gröbere Änderungen an. Rund 85.000 öffentliche Stellplätze werden werktags kostenpflichtig. 17.500 Einpendler, davon 40 Prozent aus Niederösterreich, die laut Nevrivy täglich mit dem Auto in den Bezirk kommen, müssen sich etwas überlegen.

Gleichzeitig will der Bezirkschef verhindern, dass von Anrainern, die Anspruch auf das Parkpickerl haben, "aus den Garagen geflüchtet wird". Zeichnet sich ab März 2022 ab, dass einige öffentliche Parkplätze nicht mehr dringend gebraucht werden, sollen hier zeitnah Bäume gepflanzt, Gehsteige verbreitert oder Radwege gebaut werden.

Baulich getrennte Radwege Mangelware

So sind baulich getrennte Radwege im Bezirk Mangelware, kritisiert der grüne Klubchef Orgler. "Nur 70.000 Euro werden vom Bezirk dafür jährlich lockergemacht, aber für Straßenbau und -sanierung stellt der Bezirk stets fünf Millionen Euro zur Verfügung." Laut Nevrivy wird aktuell von der Stadt ein Ausbaukonzept erarbeitet. Fest steht bereits, dass der Radweg entlang der Wagramer Straße bis zum Donau-Zentrum 2022 kommt, der Abschnitt bis zum Kagraner Platz ist 2023 dran. Geplant sind zudem Verbindungen zwischen Breitenlee und Aspern Nord sowie vom Kagraner Platz entlang der Breitenleer Straße.

Der Bau der Stadtstraße ist freilich trotz Öffi- und Radwegeausbaus alternativlos, sagt Nevrivy. "Wir werden immer mehr zu Stadt. Und da braucht es auch Straßen." (David Krutzler, Martin Putschögl, 20.12.2021)