Donna Haraways bereits 1985 erschienener Essay "A Cyborg Manifesto" wird in der Kunst- und Kulturwelt fleißig rezipiert. Die Theoretikerin imaginiert darin eine Post- Gender-Welt, in der Wahlverwandtschaften Identitäten ersetzen.

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An Bezeichnungen für Donna Haraway mangelt es nicht: Naturwissenschaftshistorikerin, spekulative Feministin, Posthumanistin, Philosophin, Theoretikerin, oder – und auch das spielt in ihrer Arbeit eine Rolle – Hundeliebhaberin kämen jedenfalls infrage. Aber nennen wir die US-amerikanische Mittsiebzigerin einfach mal Muse im ursprünglichen Sinn: Ohne den Willen der Muse hätte es keine Ilias und keine Aeneis gegeben – kein Storytelling auf Neudeutsch.

So eine Muse, also eine Schutzgöttin der Künste, eine wichtige Impulsgeberin, was das Geschichtenerzählen betrifft, ist Haraway. Kürzlich ernannte sie das im deutschsprachigen Raum tonangebende Kunstmagazin Monopol zur aktuell wichtigsten Person der Kunstwelt, 2017 war sie bereits auf Platz drei des US-Art Review-Rankings der 100 einflussreichsten Köpfe des Kunstbetriebs gewählt worden – obwohl sie selbst weder Künstlerin noch dem Kunstbetrieb zugehörig ist. Gerade in den letzten Jahren kam gefühlt kein Ausstellungstext ohne Haraway-Zitat aus. Warum?

Es sind ihre Ideen, ihre Zugänge und ihre Haltung, die weltweit in der bildenden Kunst, der Musik und dem Theater auf große Resonanz stoßen. Ihre Kenntnis akademischer Diskurse um Feminismus und Ökologie verwebt sie mit Science-Fiction-artigen, surrealen Erzählungen. In einer für Wissenschaftsverhältnisse eigentümlich neuen Sprache kann sie humorvoll und provokant, glasklar, aber auch völlig opak sein.

Vergemeinschaftung, nicht Babies

Radikale und durchaus kritisierte Forderungen wie dem Bevölkerungswachstum Einhalt zu gebieten – ihr Motto: "Make kin, not babies" – bettet sie in spekulative Zukunftserzählungen ein, in denen der Mensch sich nicht als Krone der Schöpfung sieht, sondern mit Tieren und auch Maschinen Vergemeinschaftung betreibt und sich verwandt macht – bis sich die Spezies ineinander auflösen. Dieses erdachte Zeitalter nennt sie in ihrem 2016 erschienenen Buch Staying with the Trouble Chthuluzän.

Ins Deutsche wurde es unter dem Titel Unruhig bleiben von der österreichischen Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser übertragen. "Die Lektüre Haraways hat aktivierenden Charakter; nicht im Sinne einer Mobilisierung für ein bestimmtes ökopolitisches Programm, sondern im Sinne der Ermutigung, denkend und tuend neue Wege einschlagen zu können. Ich kann mir vorstellen, dass ihre Kombination aus historischer Selbstverortung, sich persönlich angreifbar machen und einem gewissen utopischen Drive für viele Künstlerinnen und Künstler anziehend ist", bringt Harrasser mehrere Facetten auf den Punkt.

Mitdenkerin, nicht Vordenkerin

Dazu kommt das Offensichtliche: Im utopischen Möglichkeitsraum der Kunst ist das Verschwimmen verschiedener Spezies sofort vorstell- und darstellbar, für die reale Gegenwart und Zukunft ist Haraways Traum vom Post-Gender-Cyborg, den, die oder das sie bereits 1985 in ihrem Essay A Cyborg Manifesto imaginierte, vor allem auf der Ebene der Metapher fruchtbar: als Idee für neue Weltbewohnende, die Allianzen nicht über identitätspolitische Marker, sondern über Wahlverwandtschaften schmieden. Das Cyborg Manifesto, das seiner Zeit definitiv voraus war,ist nicht leicht zu durchdringen, stellt diesen Anspruch aber auch nicht. Haraway will eher zum Out-of-the-box-Denken inspirieren – als Mitdenkerin nicht als Vordenkerin.

"Everything I think I was introduced to by networks of friends", sagt sie in dem 2016 erschienenen, sehenswerten Dokumentationsfilm Donna Haraway: Story Telling for Earthly Survival von Fabrizio Terranova. Sie verweist laufend auf Ideen von Kolleginnen und Kollegen, auch wenn diese viel unbekannter sind als sie selbst, fördert den Nachwuchs und stellt sich ihren Kritikerinnen und Kritikern.

"Ihr Humor ist sehr wichtig und dass sie verschiedene Auffassungen zu Politik, verschiedene Radikalitäten des Einsatzes toleriert, während sie dabei klar analysiert, wo der Feind sitzt", erläutert Helmut Köpping, der das Grazer Theater im Bahnhof leitet, das im Juni die Performance Donna Haraway darf Graz doch nicht verlassen uraufführte.

Utopisch, nicht Game-over

Es sind also auf der einen Seite Haraways Vorstellungen wie die des Cyborgs, die Künstlerinnen und Künstler ganz konkret faszinieren, aber auch eine gewisse Gleichwertigkeit von Science und Fiction, wenn es darum geht, das Denken anzuregen. Dann ist es Haraways tendenziell "utopische", hoffnungsvolle Einstellung, die sich auch in Anbetracht aktueller ökologischer Herausforderungen immer gegen eine Game-over-Haltung ausspricht. Und es ist Haraways sympathischer Zugang, ihre Haltung: zuhören, diskutieren, gemeinsam arbeiten. Das passt gut zu einem anderen aktuellen Trend im Kunstbetrieb, nämlich dem Arbeiten im Kollektiv.

In der erwähnten Dokumentation Terranovas gibt es eine bezaubernde Stelle, in der Haraway über ihre frühe, katholisch geprägte Jugend erzählt. Ihr Umfeld riet ihr, Antworten auf ihre zahlreichen Fragen bei Thomas von Aquin zu suchen. Lachend berichtet Haraway, dass sie natürlich gar nichts verstand, was der große Philosoph und Theologe da schrieb, aber "it fucks with your mind, it changes who you are". Das könnte man genauso über Donna Haraways eigene Texte sagen. (Amira Ben Saoud, 18.12.2021)