Das Elend wirft hohe Schatten in "Die Schwerkraft der Verhältnisse": Stefanie Dvorak (li.) und Katharina Lorenz, davor Markus Meyer.

Foto: Marcella Ruiz Cruz

Der Ort mit dem schönen Namen "Donaublau" sieht Wien, dieser gemütlichen Betriebsstätte des Weltuntergangs, nur oberflächlich ähnlich. Vor allem drückt er die kleinen und ganz kleinen Leute zu Boden: unmerklich erst, dann mit umso furchtbarerer Gewalt. Versehrte sind sie allesamt: dem letzten Weltkrieg mit knapper Not Entronnene, die in bitterer Wortarmut ihr Dasein zwischen Einbaukästen fristen. Bis zum Tod ihrer unschuldigen Kinder, den sie, im Stil antiker Rächerinnen, selbst herbeiführen.

Donaublau bildet die Kulisse von Marianne Fritz‘ Romanerstling "Die Schwerkraft der Verhältnisse" (1978). Im Wiener Akademietheater werfen die Fritz-Figuren zunächst nicht blaue, sondern mächtige schwarz-weiße Schatten. Übermenschlich hohe Scherenschnitte, die – in Bastian Krafts wunderbarer Einrichtung des Stoffes – permanent über ihre Sprachverhältnisse leben. Denen kein Gott gab zu sagen, wie sie leiden. Sondern die von der steirischen Radikal-Einzelgängerin Fritz (1948-2007) mit ebenso steilen wie rätselhaften Aussagen der Kälte einer für sie unverständlichen Welt trotzen.

"Ein Mann, ein Wort, und du bist verloren!", heißt es in Momenten höchster Not. Und so sitzt die Heldin Berta Schrei (Katharina Lorenz), eine Medea des 20. Jahrhunderts, mutterseelenallein am Boden, während ihr Schatten hinter ihr mit den Silhouetten der Kinder (noch) fürsorglich spielt.

Im Anstaltskittel

Berta ist von Anfang an Delinquentin. Im Anstaltskittel, mit kurz geschorenem Haar, trotzt sie als Insassin der "Festung" – wieder so ein unerklärlich suggestiver Marianne-Fritz-Begriff – den Zudringlichkeiten ihrer Liebsten. Und schweigt die Welt ihres piefigen Chauffeur-Gatten Wilhelm (Markus Meyer), ihrer Nachfolgerin in seinem Ehebett (Stefanie Dvorak), dröhnend an.

Regisseur Kraft hat einen ingeniösen Trick ersonnen, um die Hü-Hott-Dramaturgie des Fritz’schen Erzähltextes, im Original hundert Seiten stark, zu bannen. Die Schauspielerinnen agieren mit ihren "alten" Schatten um die Wette. Alle Welt will Berta Schrei zu Hilfe kommen. Sogar der Musiklehrer (und Bühnenmusiker) Rudolf (Nils Strunk) versetzt die junge Frau in selige Walzerstimmung. Ihre beste Freundin (Dvorak) begräbt sie unter einem Wust von Lebensmaximen und Handlungsanweisungen.

Aber der Schaden ist längst angerichtet. Bertas "Festung" ist, als Kuckucksnest und Besserungsanstalt, die letzte Station auf dem unumkehrbaren Weg einer permanenten Erziehung zur Unmündigkeit: hinein in die Katastrophe. Rudolf, der für das Leben zu Unangepasste, viel zu Weiche, wird in den letzten Kriegstagen fallen. Sein Kamerad Wilhelm wird mit Gänseblümchen in der Hand um diejenige der von Rudolf Geschwängerten anhalten. Überall spürbar bleibt das Wirken einer untergründigen Aggression: eines Krieges aller gegen alle.

Die gemeinsame Freundin Wilhelmine wird sich vor Eifersucht den kleinbürgerlichen Mund zerreißen (famos: Dvorak). Und Berta? Kommt der Welt abhanden, im permanenten Kleinkrieg aufgerieben zwischen den Institutionen der staatlichen wie der erzieherischen Gewalt. "Das Leben ist eine Wunde", viel mehr Einsicht in den annähernd totalitären Charakter der Nachkriegsordnung ist von diesen Menschenkindern, die vor den Besitzenden buckeln und unbeholfen nach unten treten, nicht zu haben.

Die schweigsame Lorenz ist das Ereignis dieses gedankenklaren, schlichten und ungemein suggestiven Abends. Sie beklagt die "Äußerlichkeit" einer Welt, zu der sie dennoch, als Subjekt, kein Gegengewicht zu bilden vermag. Marianne Fritz‘ Dichtung bildete während gut dreißig Jahren eine einzige Trotzreaktion: wider alle Dressurmaßnahmen durch Staat, symbolische Macht und Obrigkeit.

Notwendiges Postskriptum

Krafts Inszenierung nimmt sich wie ein notwendiges Postskriptum zu dieser titanischen Lebensleistung aus. Während Fritz‘ vieltausendseitige Bücher und Typoskripte ("Dessen Sprache du nicht verstehst", "Naturgemäß") entweder vergriffen oder unbezahlbar sind, macht "Die Schwerkraft der Verhältnisse" die Wurzeln noch der heutigen, merkwürdig verdrucksten Widerstandskultur sinnfällig.

Bertas Bereitschaft zum doppelten Kindsmord wird in einem wahnwitzig beengten Bühnenkasten (Ausstattung: Peter Baur) angebahnt. In der Vorratskammer liegt diese Lebensmüde etwa kellertief zur Probe: wie in einem Sarg. In Donaublau erklärt eine Mutter "ihre Schöpfung" für endgültig "beendet". Das Geheimnis dieses Dementis allen kreatürlichen Seins wird von Kraft und seinen famosen Schauspielerinnen nicht etwa gelüftet. Aber ein Hauch wird spürbar, wenn die greise "Festungs"-Mitbewohnerin (Barbara Petritsch) mit ihrem schlohweißen Undinen-Haar der untröstlichen jüngeren Schwester eine Art letztes, entsühnendes "Ego te absolvo" spricht.

Der herzliche Premierenjubel mag auch den Mitwirkenden wie eine kleine Erlösung erschienen sein. (Ronald Pohl, 19.12.2021)