Was will Wladimir Putin mit seinem massiven Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine? Seit Monaten stellen sich westliche Politiker diese Frage und finden ohne klare Antwort auch keine befriedigende Reaktion auf diese Provokation. Am Freitag hat der russische Präsident endlich die Karten auf den Tisch gelegt: Er fordert von der Nato neben dem Verzicht auf eine weitere Osterweiterung, also auf einen Beitritt der Ukraine, einen militärischen Rückzug aus allen ehemals kommunistischen Staaten. Wie einst im Kalten Krieg soll der Westen eine Sicherheits- und Einflusssphäre Russlands akzeptieren, die bis an die Grenze zu Österreich reichen würde.

Natürlich weiß Putin, dass diese Forderungen für Amerikaner wie Europäer inakzeptabel sind. Aber nur Nein zu sagen reicht nicht aus. Der Westen muss nun endlich eine kohärente Strategie entwickeln, wie man mit Russland so umgeht, dass die Atommacht keine Bedrohung für seine Nachbarn darstellt, sich aber auch nicht bedroht fühlt.

Und Putin fühlt sich doppelt bedroht. Das eine ist jedes Lebenszeichen einer Demokratiebewegung, die seine korrupte Herrschaft infrage stellen könnte. Er fürchtet die Vorbildwirkung einer prowestlichen Ukraine und tut deshalb alles, um sie politisch und wirtschaftlich zu schwächen – was aber den historisch und kulturell so eng verbundenen Staat zunehmend von Russland entfremdet.

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Wladimir Putin fühlt sich doppelt bedroht.
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Strategische Bedrohung

Das andere ist die Nato, für Putin eine strategische Bedrohung. Es war ein Fehler, dass das Bündnis 2008 auf Drängen von George W. Bush der Ukraine und Georgien einen Beitritt versprochen hat. Das erwies sich als rein symbolischer Akt, der keine realistische Chance auf Umsetzung hat, aber Moskau seither zu aggressiverem Vorgehen verleitet. Es handelt sich hier um ein typisches Sicherheitsdilemma: Handlungen, mit denen sich eine Seite vor einer Bedrohung schützen will, werden vom Gegner als aggressiver Akt betrachtet. Die Reaktion löst wiederum neue Ängste aus und führt zur weiteren Eskalation.

Der jüngste russische Vorstoß ist eine Chance für Verhandlungen, um aus dieser Sackgasse herauszufinden. Washington kann ohne Gesichtsverlust gegenüber Moskau klarstellen, dass die Ukraine kein Nato-Kandidat ist. Aber das darf die westliche Unterstützung für die Regierung in Kiew nicht schmälern – im Gegenteil. Es muss Putin klar sein, dass eine neuerliche Aggression gegen die Ukraine schmerzhafte wirtschaftliche Folgen haben wird. Dafür aber müssen die USA und die EU an einem Strang ziehen.

Hier kommt die Nordseepipeline Nord Stream 2 ins Spiel, die Washington und Berlin spaltet. Immer noch drängen die US-Republikaner auf Sanktionen gegen Deutschland, wenn die Pipeline in Betrieb geht. Das wäre kontraproduktiv. Aber die Regierung von Kanzler Olaf Scholz darf den politischen Charakter der Pipeline nicht länger ignorieren, sondern muss Wege finden, damit diese als Druckmittel gegen Moskau dienen kann – und nicht umgekehrt. Wenn Russland Europas Sicherheit gefährdet, dann kann es auch für Deutschland oder Österreich kein "Business as usual" geben.

Putin spielt nur den Starken – und kaschiert damit innenpolitische Schwächen. Mit etwas Geschick kann der Westen sein Spiel stören und Russlands bedrohten Nachbarn zu mehr Sicherheit verhelfen, ohne dem Kreml neue Anlässe für riskante Manöver zu geben. (Eric Frey, 19.12.2021)