Wie kann ich die anderen ändern? Das wird nicht funktionieren – weder in der Firma noch unter dem Weihnachtsbaum, sagt Psychotherapeut Tobias Glück.

STANDARD: Weihnachten explodiert oft das, was wir im Job dauernd erleben: Die anderen machen nicht das, was sie sollen. Warum ist das so?

Glück: Gerade dieses Fest begehen wir mit zu hohen Erwartungen: Die – in dem Fall geliebten – Menschen sollen sich anders verhalten. Die Tante Gerti soll sich impfen lassen, der Opa nicht immer von den besseren Zeiten damals reden, die Kinder sollen endlich dankbar sein, die Eltern sollen endlich aufhören, mich abzuwerten. Das tun die aber nicht, und unsere Hoffnungen werden aufs Neue enttäuscht.

STANDARD: Trotzdem tun wir uns das immer und immer wieder an ...?

Glück: Ja. Das Fest der Liebe sollte aber auch Selbstliebe beinhalten. Wir sollten uns klar darüber werden, was wir uns selbst zumuten wollen, und uns auch entscheiden, Nein zu sagen und für unsere Bedürfnisse einzustehen, auch wenn dann jemand ang’fressen ist. Oder wir kommen überein: We agree to disagree und sparen strittige Themen aus. Sicher ist: Niemand wird sich plötzlich ändern, nur weil Weihnachten ist.

Wir machen andere Menschen für unser Glück verantwortlich, sagt Psychotherapeut Tobias Glück. Ein fataler Anspruch.
Foto: Katharina Khoss

STANDARD: Im Job wird dieser Anspruch oder diese Hoffnung, dass sich die anderen ändern, ja auch meistens enttäuscht ...

Glück: Das ist fast notgedrungen so. Firmen sind keine Demokratien. Unternehmen haben häufig keine Instrumentarien oder die Kultur, um mit Konflikten oder mit Menschen umzugehen, die nicht einverstanden sind, die Änderungen verlangen.

STANDARD: Die Hoffnung, dass Arbeitslast, Arbeitsverdichtung leichter werden und sich der Umgang auf menschlicher Ebene bessert, muss Illusion bleiben?

Glück: Nicht zwingend. aber wir übernehmen zu wenig Verantwortung für unser Erleben. Wir geben anderen die Schuld für unsere nicht erfüllten Bedürfnisse und tragen unbewusst den Anspruch vor uns her, dass andere für unser Glück verantwortlich sind. Klassisch beschweren sich Menschen, dass sie unter Druck stehen, schlecht behandelt werden, keine Zeit haben.

STANDARD: Das ist ja beim Blick auf sämtliche Umfragen zur Arbeitslast und die Studien zu psychischen Belastungen auch nicht als irgendeine Einbildung von der Hand zu weisen.

Glück: Richtig. Aber wir klammern uns irgendwie daran, dass jemand kommen müsste und uns retten. Wir beschweren uns, spielen aber weiter mit und vermeiden die Konfrontation.

STANDARD: Das würde aber bedeuten, den Job sein zu lassen – sollte Abgrenzung, sollten gute Übungen zum Neinsagen nicht fruchten?

Glück: Genau. Dann kommt meistens das Argument: Ja, ich habe aber Verpflichtungen und muss dies und das finanzieren. Klar, aber tatsächlich stehen dahinter Entscheidungen – und ihre Konsequenzen. Und dafür können wir Verantwortung übernehmen. Ich sage das explizit nicht zu und über Menschen in prekären Verhältnissen, Alleinerziehenden oder Eltern am Limit. Zu den anderen schon: Wenn ich keine Zeit mehr für mich habe zwischen 24/7-Arbeitsterminen, dann muss ich irgendetwas anderes seinlassen. Diese Entscheidung kann nur ich treffen. Wir sollten anerkennen, dass wir viele Entscheidungen für unser Leben verantworten, und sie einer Überprüfung unterziehen.

STANDARD: Ganz nach dem guten, alten Motto: Love it, change it or leave it?

Glück: Letztlich ja.

STANDARD: Das braucht aber ganz schön viel Härte zu sich selbst ...

Glück: Nein, keine Härte. Sondern eher Klarheit. Härte hat immer etwas Aggressives, Unempathisches sich und anderen gegenüber. Klarheit bedeutet Selbstakzeptanz und zu seinen Entscheidungen und Fehlern zu stehen. Aber ja, wir sind eher hart mit uns selbst als klar.

STANDARD: Wie könnte der ganze Weg denn beginnen?

Glück: Antworten auf die Fragen zu finden: Wo bin ich nicht ehrlich zu mir? Wo übernehme ich keine Verantwortung für mich und meine Gefühle? Wo kämpfe ich gegen mein momentanes Erleben an und gebe anderen oder irgendwelchen Umständen die Schuld? Wo stehe ich nicht für meine Grenzen ein? Aber auch: Wo bin ich vielleicht zu überempfindlich und verwehre anderen die Akzeptanz? Und natürlich: Will ich die Konsequenzen meiner Entscheidungen – etwa bezogen auf den stressigen Job und das daraus resultierende Geld – nun weiter tragen oder nicht?

STANDARD: Da viele in den vergangenen Monaten ihre Jobs hingeschmissen haben – Stichwort Great Resignation –, scheinen solche Nachdenkprozesse ja im Gange ...

Glück: Es sieht so aus, als würden nicht mehr alle alles zu jedem Preis mitmachen. Ob auf absehbare Zeit Kipppunkte und ein Umdenken erreicht werden, die wirklich zu einer Änderung der Systeme in der Corporate World und in der Gesellschaft führen, kann ich nicht beurteilen. Ich hoffe es aber.

STANDARD: Banale Schlussfrage: Was machen Sie zu Weihnachten?

Glück: Das Gleiche wie alle anderen auch ... (Karin Bauer, 24.12.2021)