Georg Kleins Romansettings ähneln kunstvoll zusammengeklebten Modellbauten.
Foto: Alexander Fest

Wer so altmodisch ist, sein Glück als Journalist in einer Lokalzeitung zu suchen, dem ist die sofortige Übersiedlung nach Augsburg anzuraten. Für angehende Zeitungsschreiber herrschen in der Geburtsstadt Bertolt Brechts offenbar paradiesische Verhältnisse. Der erste Sportreporter der Augsburger Allgemeinen wird von den Söhnen und Töchtern der Lech-Metropole liebevoll "Addi" gerufen. Er genießt das Sozialprestige eines Homer: Addi Schmuck befüllt allwöchentlich eine Fußballkolumne. Er fährt nicht nur ein "sanddornfarbenes" Antik-Auto, sondern ist auch der schönen, reifen Herausgeberin des Winkelblatts mehr als nur ein ergebener Textbeiträger.

Georg Kleins neuer Roman hebt als Provinzsatire an, als "Schtonk", jedoch mit erheblich reduziertem Säureanteil. Vor allem sprechen die Figuren in Bruder aller Bilder ein verquastes Adenauer-Deutsch: eine Art Nierentisch-Prosa. Dekolletés sind in diesem Limbus der Wohlanständigen garantiert "rüschchengerahmt". Die Fingernägel der Chefsekretärinnen glänzen Pop-Art-rosa, Männer am Schanktisch verströmen das Macho-Aroma von schlecht deodorierter "Kerligkeit".

Zampano des Mysteriösen

Klein (68), selbst aus Augsburg gebürtig, gehört seit einem Vierteljahrhundert zu den bewährten Meistermanieristen im Literaturbetrieb. Seine Romansettings ähneln ungemein kunstvoll zusammengeklebten Modellbauten. Statt Streichhölzern benützt Georg Klein auffällig niedliche Wörter. Aus ihnen errichtet dieser Zampano des Mysteriösen merkwürdig durchlässige Fluchtgebilde: nach oben hin offen für allerhand Übersinnliches, für das Aparte, vor der Zeit Verblasste. Diesen Autor reizt das erzählerisch Abhandengekommene. Klein-Romane bilden mehrdimensionale Gehäuse: Sie geben den Hintergrund ab für faule Zauberkunststücke und öffnen himmelweit Raum für metaphysische Spekulation.

Moni Gottlieb ("MoGo"), die aufstrebende Jungjournalistin, wird dem Kollegen Schmuck für die Dauer einer Arbeitswoche als Assistentin zugeteilt. Sie lernt Augsburgs "Taubenproblem" kennen und strandet an der Seite ihres Mentors beim "Auskenner": Dieser, ein verwahrloster Alt-68er in drahtgeschnürten Stiefeln, unterhält eine nicht restlos geklärte Beziehung zum Jenseits.

Schmucks Kompagnon ist unter anderem der Urheber einer sinnfälligen Apparatur, die sich "Fledermausfutterkarussell" nennt: An diesem zappeln aufgespießte Würmer. Ungeduldig zu zappeln beginnt irgendwann auch die Leserin. Sie ahnt, dass es in diesem Provinzkosmos keinesfalls mit rechten Dingen zugeht. Ist eine Taube dem "Auskenner" durch das Fenster unsanft ins Haus gefallen? Hat ihn dabei womöglich eine Glasscherbe heimtückisch gemeuchelt?

Gefangen im Wurmloch

Desgleichen sitzen "MoGo" und ihre Gefährten in einer Art Wurmloch gefangen. Währenddessen lebt der Hippie vom Augsburger Stadtrand geschätzte zwei Mal. Auf der "Realitätsebene" geht er Moni und Addi zur Hand, braut Tee und sieht anderen dabei zu, wie sie verunfallen. Auf einer höher dimensionierten Ebene sitzt er hingegen mit "MoGos" soeben verstorbener Mutter vor dem Fernseher – und beobachtet die Hinterbliebenen dabei, wie sie mit ihrem Leben unmöglich zurande kommen. Aus den Gesichtern harmloser Menschen platzen Tierfratzen, eine mokkabraune Katze scheint sich vor aller Augen zu dematerialisieren.

Irgendwo zwischen den Welten klafft ein Spalt: In diesem Tunnel klumpt Georg Kleins Erzählstoff, bildet die merkwürdigsten Fratzen, stülpt sich aus und flattert in der Kälte des kosmischen Windes. Am ehesten erinnert dieser famos unterhaltsame Roman an das Lächeln der Cheshire-Katze: Die hinterlässt auch gut sichtbar ein Grinsen, während sie selbst sich schon längst verdünnisiert hat. Man wird diesem vermeintlich altmodischen Meistererzähler nicht über den Weg trauen wollen. Und seine Bücher doch – auch als Nicht-Augsburger – begeistert verschlingen. (Ronald Pohl, 21.12.2021)