Ein Riesentausendfüßer hat vor 326 Millionen Jahren bemerkenswerte Spuren im Stein hinterlassen.
Foto: Neil Davies

Die Zeit ist offenbar reif für mehr Tausendfüßer-Nachrichten: Nachdem vergangene Woche endlich die Dokumentation des ersten veritablen Tausendfüßers – mit einer Beinzahl von 1.306 – öffentlich wurde, berichtet eine britische Forschungsgruppe nun vom Fund eines fossilen Familienmitglieds, der allerdings 326 Millionen Jahre älter ist. Dem Team zufolge handelt es sich um den ältesten Hinweis auf Riesentausendfüßer, der bisher gefunden wurde, und um das größte bisher gefundene Tier, das zum Stamm der Arthropoda – in dem sich unter anderem Insekten und Spinnentiere finden – zählt.

Wie das Forschungsteam im Fachblatt "Journal of the Geological Society" schreibt, schätzt es die Länge des prähistorischen Krabbeltiers mit dem Namen Arthropleura auf 1,9 bis 2,6 Meter, bei einem Gewicht von bis zu 50 Kilogramm. Genauer lässt sich das kaum sagen, denn erhalten sind nur Abdrücke im Gestein, die einen Teil des Körpers darstellen (der immerhin 76 mal 35 Zentimeter misst).

Riesenviecher im Vergleich: Der Tausendfüßer links wurde in Großbritannien gefunden, die lila markierten Stellen zeigen Teile des Körpers, die als Abdrücke erhalten sind und Rekonstruktionen des Körperrests zulassen.
Bild: J.W. Schneider, TU Bergakademie Freiberg

Das Fossil wurde an einem Strand in England, nördlich von Newcastle, entdeckt: Ein ehemaliger Doktorand der Universität Cambridge wurde vor knapp vier Jahren beim Spazieren nahe der kleinen Ortschaft Howick auf den Eindruck im Sandsteinblock aufmerksam. Dieser Block war von einer Klippe gefallen und auf dem Strand gelandet – perfekt aufgebrochen, sodass das Fossil gut erkennbar war. Zur Analyse wurde das steinerne Ungetüm an die Uni transportiert, was für die eine oder andere Schwierigkeit sorgte: "Es war ein unglaublich aufregender Fund, aber das Fossil ist so groß, dass wir vier Leute brauchten, um es die Klippen hinaufzutragen", sagt Neil Davies, Geologe an der Universität Cambridge und Erstautor der Studie.

Vergängliches Exoskelett

Dem Beinrekord kommt das Monstrum mit seinen 25 bebeinten Körpersegmenten nicht nahe, löst aber vorläufig Seeskorpione als größte Gliederfüßer aller Zeiten ab. Arthropleura lebte in der Epoche des Karbon, mehr als einhundert Millionen Jahre, bevor die Saurier die Erde eroberten. Das, was heute Großbritannien ist, lag damals noch am Äquator und hatte kein kühles und regnerisches, sondern ein tropisches Klima.

Nördlich von Newcastle bohrte das Team das Fossil aus dem Stein, um es an der Universität unter die Lupe zu nehmen.
Foto: Neil Davies

Das Fossil stammt vermutlich von einem gehäuteten Teil des Exoskeletts, das in einer Flussrinne landete, die sich wiederum mit Sand füllte und so konserviert wurde. Ein Glücksfall, denn Fossilien dieser Gattung sind selten: Zwei bisherige Arthropleura-Vertreter wurden in Deutschland gefunden, sind aber ein gutes Stück kleiner als das Exemplar, das in Großbritannien seine Spuren hinterließ. "Wenn diese Tiere starben, haben sich ihre Körper relativ schnell aufgelöst", sagt Davies. Ein versteinerter Kopf wurde bisher noch nicht gefunden – dieses Rätsel bleibt also noch ungelöst.

Immense Ausmaße vor dem Höhepunkt

Ein weiteres Mysterium, das dieser Fund aufgibt, hat mit seinem gigantischen Körper zu tun. Bisher nahmen Fachleute an, dass die riesigen Krabbler zur Zeit der höchsten Sauerstoffkonzentration in der Erdatmosphäre auch ihre größten Ausmaße erreichten. Diese hohe Konzentration wurde für das späte Karbon und den Beginn des Perm ermittelt. Und sie erscheint logisch: Durch den vielen Sauerstoff, der durch die Körperoberfläche ins Innere von Insekten, Spinnen und anderen Gliederfüßern gelangen konnte, leisteten sich die Tiere enorme Längen.

Der aktuelle Fund wurde jedoch auf eine Phase datiert, die noch vor diesem Höhepunkt kam. Sauerstoff war also nicht die einzige Voraussetzung für die beachtliche Größe – oder es gab später noch monströsere Krabbeltiere, deren Überreste bis heute noch nicht entdeckt wurden.

Die Nahrung macht's?

Das Forschungsteam vermutet, dass für die Riesentausendfüßer auch die Ernährung eine wichtige Rolle beim Erreichen rekordverdächtiger Größen spielte. "Wir wissen zwar nicht genau, was sie gegessen haben, aber es gab zu dieser Zeit viele nährstoffreiche Nüsse und Samen im Laub, das sich am Boden ansammelte", sagt Davies. "Und vielleicht waren sie sogar Raubtiere, die sich von anderen wirbellosen Tieren oder gar von kleinen Wirbeltieren wie Amphibien ernährten."

Ein ewiges Leben bescherte diese furchterregende potenzielle Eigenschaft ihnen aber nicht: Die Arthropleura starben nach etwa 45 Millionen Jahren aus. Die Gründe dafür sind bisher unbekannt. Womöglich hängen sie mit einer globalen Erwärmung zusammen, die das Klima ihres Lebensraums trockener und für sie unwirtlicher machte. Eine andere Möglichkeit ist, dass Reptilien ihnen zunehmend Konkurrenz machten und sie so von der Bildfläche verdrängten. (sic, 21.12.2021)