Sigrid Maurer erwartet nicht, dass die ÖVP in Sachen Asylpolitik künftig auf eine erheblich weniger restriktive Linie zu bewegen ist.

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Im Nationalrat muss Sigrid Maurer mit der ÖVP um eine gemeinsame Koalitionslinie ringen und die grünen Abgeordneten dirigieren. Als Klubobfrau ist sie zudem die zentrale Verbindungsperson zwischen Parlament und den grünen Ministerinnen und Ministern. In Maurers Büro hinter dem Wiener Burgtheater offenbaren sich aber auch die eher banalen Aufgaben, die der Führungsjob mitunter mit sich bringt. Mehrere Stapel an Weihnachtskarten liegen auf ihrem Tisch ausgebreitet, darauf klebende Post-its zeigen ihr, wem aller sie bis Freitag noch eigenhändig ein frohes Fest wünschen soll. Da ist selbst ein Zeitungsinterview eine willkommene Abwechslung.

STANDARD: Am Wochenende gab es in Wien bei einer rechten Corona-Verharmloser-Kundgebung zahlreiche Verstöße gegen Sicherheitsauflagen, Sperrvorrichtungen wurden durchbrochen. Die Polizei hat viel gewähren und Hunderte unangemeldet durch die Stadt ziehen lassen. Sie haben ja einige Erfahrung auf linken Demos: Hätte die Polizei dort bei Verstößen auch so zaghaft reagiert?

Maurer: Ich möchte mir nicht anmaßen, das Verhalten einzelner Polizisten zu beurteilen, die machen einen schwierigen Job in einer sehr herausfordernden Situation. Die Polizei muss einerseits das Versammlungsrecht schützen, andererseits dürfen Dritte nicht gefährdet werden. Wenn aber der Eindruck entsteht – und dieser Eindruck entsteht –, dass seitens der Landespolizeidirektion Wien je nach politischer Zuordnung unterschiedlich vorgegangen wird, dann ist das ein Problem. Der Wiener Polizeipräsident muss sich mit diesem Vorwurf konfrontieren. Ich möchte mich aber gar nicht so sehr dieser Corona-Verharmloser-Szene widmen, denn um die Relationen zu wahren: Jeden Tag lassen sich mehr Menschen impfen als zu diesen Demos hingehen. Vor allem haben am Sonntag danach weit mehr als 30.000 Menschen beim Lichtermeer ein Zeichen der Solidarität und des Andenkens an die Opfer der Pandemie gesetzt.

"Wenn der Eindruck entsteht – und dieser Eindruck entsteht –, dass seitens der Landespolizeidirektion Wien je nach politischer Zuordnung unterschiedlich vorgegangen wird, dann ist das ein Problem", sagt Sigrid Maurer über den Polizeieinsatz bei den Corona-Demos.
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STANDARD: Wie würden Sie denn zum Jahresabschluss die Performance der Koalition in der Pandemiebekämpfung 2021 einstufen? Mit welcher Schulnote?

Maurer: Ich möchte keine Gesamtnote vergeben, weil das je nach Maßnahme sehr unterschiedlich ist. Beim Testangebot sind wir weltweit an der Spitze, bei der Impfquote sind wir schlechter als andere Länder. Wichtig ist, dass wir ständig dazulernen, auch das Virus verändert sich laufend. Das grüne Ansinnen waren immer evidenzbasierte Entscheidungen.

STANDARD: Der damalige Kanzler Kurz hat im Sommer die Pandemie für beendet erklärt, energischen grünen Widerspruch hat man seinerzeit nicht gehört. Hätte Ihre Partei gegen die Heilsbotschaften stärker dagegenhalten und vor dem Herbst warnen müssen? Sie stellen den Gesundheitsminister.

Maurer: Wir Grüne übernehmen Verantwortung für das, was wir tun. Was Aussagen der ÖVP und des ehemaligen Kanzlers betrifft, müssen Sie dort erfragen. Fakt ist: Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein hat niemals die Pandemie für beendet erklärt und auch keine Entwicklungen oder Maßnahmen ausgeschlossen.

STANDARD: Neuerdings gibt es bei Gecko mit Rudolf Striedinger einen General an der Spitze des Pandemiemanagements. Man hätte nicht erwartet, dass das Bundesheer unter grüner Regierungsbeteiligung einmal solch eine Führungsrolle bekommt.

Maurer: Wir hätten auch nicht erwartet, dass eine Pandemie für mehrere Jahre über uns hereinbricht. Striedinger ist übrigens nicht allein an der Spitze, sondern teilt sich die Führung mit Chief Medical Officer Katharina Reich, und es gibt darunter einen Expertenstab mit den besten Köpfen aus verschiedenen Disziplinen. Die zentrale Rolle des Bundesheers ist sinnvoll, weil es die Ressourcen und Kompetenzen hat, um große logistische Aufgaben zu lösen. Das brauchen wir beim Testen, Impfen und auch bei der Verteilung von Medikamenten.

Die grüne Klubobfrau betont: "Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein hat niemals die Pandemie für beendet erklärt."
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STANDARD: Der neue Demokratiemonitor für 2021 hat ergeben, dass aktuell deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung kein oder wenig Vertrauen in das politische System hat. Was läuft schief?

Maurer: Ich glaube, dass wir insgesamt als Gesellschaft durch zwei Jahre Pandemie eine sehr herausfordernde Zeit hinter uns haben. Dazu kommen noch die Korruptionsermittlungen gegen die ÖVP, was uns in kurzem Abstand zwei Mal in eine Regierungsumbildung geführt hat. Die Lage ist für viele Menschen unübersichtlich geworden, es gibt daher eine große Frustration, die ich durchaus nachvollziehen kann. Unsere Aufgabe ist es jetzt, das Vertrauen zurückzugewinnen.

STANDARD: Besonders verheerend sind die Studienergebnisse bei der Gruppe mit geringem Einkommen. Da sagen rund 80 Prozent, sie würden sich von der Politik wie Menschen zweiter Klasse behandelt fühlen und dass Menschen wie sie im Parlament nicht vertreten seien. Ein Alarmsignal?

Maurer: Wenn man sich den grünen Parlamentsklub anschaut, dann sind wir sehr breit aufgestellt, besser als alle anderen Parteien. Wir haben 60 Prozent Frauen, und ein Viertel der Abgeordneten hat Migrationsbiografie. Aber es stimmt, dass im Parlament wenige Menschen sitzen, die aus unteren Einkommensgruppen kommen. Umso wichtiger ist es, deren Interessen zu vertreten, und das tun wir: Zuletzt haben wir einen Teuerungsausgleich von 150 Euro für Menschen mit niedrigem Einkommen beschlossen; Von der ökosozialen Steuerreform profitiert das unterste Einkommensfünftel – relativ zum Einkommen gerechnet – am stärksten. Und wir haben die Ausgleichszulage über der Inflationsrate erhöht. All das belegt, dass wir ärmere Menschen stark im Fokus haben.

"Wenn man sich den grünen Parlamentsklub anschaut, dann sind wir sehr breit aufgestellt, besser als alle anderen Parteien", sagt Sigrid Maurer.
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STANDARD: Zur Koalition: Die ÖVP ist in der Krise und schwächelt in den Umfragen. Müssten die Grünen jetzt nicht mehr Verhandlungsmacht haben, um etwa in der Asylpolitik die Regierungslinie aufzuweichen? Bei der EU-Aufnahme von afghanischen Flüchtlingen vor zwei Wochen war Österreich dennoch nicht dabei.

Maurer: Dass Grüne und ÖVP in diesem Bereich unterschiedliche Positionen haben, war seit Beginn der Koalition klar. Wir haben und werden uns auch immer dafür einsetzen, dass es zu Verbesserungen und keinen Verschlechterungen in diesem Bereich kommt. Aber wir haben einen aufrechten Koalitionsvertrag, und es ist auch mit einer Veränderung an der ÖVP-Spitze nicht damit zu rechnen, dass die ÖVP ihre Positionen grundlegend über Bord wirft. Unser Auftrag und unsere Verantwortung bestehen darin, das Regierungsprogramm, vor allem die zahlreichen Klimaprojekte, abzuarbeiten, und das tun wir auch.

STANDARD: Aber es gibt doch Verhandlungsmasse bei konkreten Fragen, zu denen im Koalitionsprogramm nichts steht. Etwa im Fall jener afghanischen Astronomin, die verzweifelt in Pakistan festsitzt, weil sie nun doch kein Visum vom Außenministerium bekommt. Bei entsprechendem Willen der Regierung könnte die Frau schon in Österreich forschen.

Maurer: Dass wir da dafür sind, steht außer Frage. Allerdings hat sich an den Rahmenbedingungen der Koalition und daran, wie sie ihre Entscheidungen trifft, auch durch die Querelen und Probleme aufseiten der ÖVP nichts geändert. (Theo Anders, 21.12.2021)