Natürlich hätten wir auch in Österreich Urlaub machen können. Genau genommen sogar wollen: Vor Weihnachten ist das – wenn Job- und Nachwuchssetting es ermöglichen – das Beste, was man tun kann: raus aus der jetzt gerade am unwirtlichsten, weil nasskaltgraudepressiven Stadttristesse. Schnee ist andernorts ja da – und weiß. Und falls Skifahren, Tourengehen oder Langlaufen doch nicht gehen, sind Traillaufen und/oder Moutainbiken im Hügeligen rund um Wellness-Destinationen immer eine Option.

Erst recht nach zwei Jahren ohne echte Auszeit anderswo. Da ist nicht nur die Zeit, da sind auch Kopf und Herz mehr als reif für einen Luftwechsel.

Foto: Tom Rottenberg

Die Sache hatte halt einen Haken: den Lockdown. In der Austro-Variante bedeutet das: Urlaub machen und verreisen sind erlaubt und möglich – aber halt nur ins Ausland. Nein, das muss man nicht verstehen.

Wir versuchen es auch gar nicht mehr – sondern buchten.

Buchten Rennrad fahren in der Sonne.

In einer Region, in der es ein professionelles Covid-Management gibt. Wo aber auch die Infrastruktur passt – und das auch für Menschen, die sich in der Off-Season zwar ein bisserl fordern wollen, sich aber nicht unbedingt täglich die Kante geben müssen. Und in der man auf dem (Renn-)Rad nicht alle paar Augenblick mit einem Nahtoderlebnis rechnen muss.

Mallorca wäre da eine erste Option – aber im Dezember dann auch noch im Meer zu baden geht anderswo einen Tick besser: auf Gran Canaria.

Foto: Tom Rottenberg

Winterradfahren auf den Kanaren ist nix Neues: Menschen, die systematisch und hart trainieren, haben auf Fuerteventura und Teneriffa seit langem Hotspots und Hotels. Hier gibt es im Winter zahllose Trainingslager – auch für 1.000 andere Sportarten (meist geht es aber vor allem ums Laufen und Schwimmen) werden hier alle Schikanen geboten.

Und wenn wir von "Schikanen" sprechen: Ja, windig ist es dort überall. Immer. Aber auch das weiß man vorher.

Fluchen, richtig laut fluchen darf und wird man trotzdem, wenn man am kleinen (also vorderen) Blatt fährt, 350 Watt tritt und mit 13 km/h dahinschleicht – und zwar in der Ebene. "Der Wind ist dein Freund, er macht dich stark", heißt es. Ich antworte darauf: "Wer solche Freunde hat …" – aber ich liebe es trotzdem. Das ist Teil der "Krankheit".

Foto: Tom Rottenberg

Auf Gran Canaria geht es – sportlich betrachtet – ein bisserl lockerer als auf den anderen Inseln der Region zu. Natürlich trifft man auch hier auf Rudel "harter Hunde" (und Hündinnen) in Vereinskluft, für die Fahrten unter 100 Kilometern mit weniger als 1.500 Höhenmetern und einem Durchschnittstempo von unter 30 km/h nicht gelten. Leute, für die jede Ausfahrt, jede Anhöhe ein "Battle" ist, die nie lachen, keine Kaffeepausen machen, nicht grüßen und es nicht ertragen, einge- oder gar überholt zu werden – schon gar nicht von Frauen.

Foto: Tom Rottenberg

Aber solche Figuren werden (eh überall) langsam zur Minderheit: Die meisten Leute, mit denen man sich auf Gran Canaria (aber eben auch fast überall anderswo) Straßen, Berge und Ausblicke teilt, sind entspannt.

Sie genießen und gönnen jedem und jeder den Triumph und den Jubel, wenn sich in einer Kurve plötzlich ein ewig weiter Blick ins Tal – bis runter ans Meer – öffnet. Mit Serpentinen, die endlos die Hänge hinaufmäandern – Straßen, auf denen man sich jede Kurve, jeden Höhenmeter gerade selbst erarbeitet hat. Hart erarbeitet – weil "hart" immer subjektiv ist.

Foto: Tom Rottenberg

Wieso ich das betone? Weil es wichtig ist. Mit das Schöne am Rennradfahren ist, dass da oft Menschen gemeinsam fahren können, die auf recht unterschiedlichen Leistungslevels unterwegs sind. Zumindest in der Ebene: Die Basics des Windschattenfahrens hat man rasch raus – und wenn der (oder die) Vordere nicht zwanghaft beweisen muss, stärker zu sein, ist viel möglich. Oft (obwohl es das auch umgekehrt gibt – ich kenne 1.000 Frauen, deren Windschatten ich nie halten könnte) zieht da das Männchen das Weibchen. Das ist keine Frage des Könnens, sondern meist bloß der Routinekilometer, die man über die Jahre in den Beinen gesammelt hat.

Foto: Tom Rottenberg

Am Berg wird das dann ein wenig diffiziler. Allerdings – bleiben wir im Gender-Klischee – tun sich Frauen bergauf meist eine Spur leichter: Sie müssen weniger Masse bewegen. In der Ebene ist das (beinahe) wurscht, bergab beschleunigt die Schwerkraft dann aber wieder den schwereren Partner mehr.

Bei ein paar leichten Hügerln und "Schupfern" gleicht sich das alles oft aus.

Foto: Tom Rottenberg

Gran Canaria kann aber etwas mehr als "ein paar Hügel und Schupfer": Sogar auf der flachen Traumblick-Küstenstraße im Süden sammelt man über 50 Kilometer rasch 700 Höhenmeter. Wer plant, eine Woche lang jeden Tag gemeinsam unterwegs zu sein (und nicht nur an der Küste zu fahren), kann das als durchaus abschreckend erleben.

Kann – muss aber nicht: Wenn man das richtige Bike wählt. Ein Rennrad – eh klar. Aber eines mit E. Falls Sie da jetzt im Affekt ein Schnoferl ziehen, lasse ich das durchgehen. Für den Augenblick.

Denn als mir Michael sagte, dass er Barbara auf ein "Specialized Turbo Creo" setzen würde – also ein E-Rennrad –, habe ich selbst auch zunächst "Bitte, was soll das?" gedacht.

Foto: Tom Rottenberg

Nur: Michael wusste genau, was er tat. Der österreichische Expat (dessen Nachnamen ich nie erfuhr) beim kanarischen Bike-Verleih-Platzhirsch Free Motion weiß, wie sich eine hügelige Radwoche reinhängen kann. Er weiß, wie rasch die Freude verschwindet, wenn aus "Ein bisserl quälen" spätestens am dritten Tag ein "Heute sicher nicht – und sicher nie wieder mit dir gemeinsam!" wird: Das "E" vor "Bike" kann da Urlaube (und manchmal wohl auch Beziehungen) retten.

Denn "unsportlich" ist E-Biken mitnichten: Treten muss man – in dem Fall eben frau – trotzdem. Und die Verdoppelung der eigenen Kraft durch den Motor steht nur auf dem Papier: Das wäre die Maximalstufe – nur kommt man mit der nicht einmal in der windstillen Ebene auf die Katalog-Maximalreichweite von etwa 100 Kilometern.

Wer in die Berge will, muss also haushalten – und selbst ran.

Foto: Tom Rottenberg

Der Kollateralnutzen – neben der Freude über das Erleben echter Traumstrecken – ist das "Learning" im abgesicherten Modus: Barbara saß diesen April das erste Mal auf einem Rennrad. Bergfahren spielte es für sie bisher nicht. An Strecken wie die geradezu unglaubwürdig schöne, aber eben doch 1.500 Höhenmeter auf 85 Kilometern "bietende" Runde von Maspalomas nach Puerto de Mogán und von dort über Soria zurück traut man sich da (trotz der drei Kilometer auf dem Schiff) nicht ohne weiteres heran.

Der Motor hilft da auch dem Kopf. Irgendwann schaltet man ihn bergauf – "haushalten!" – nämlich auf die leichteste Stufe, sieht, dass man (also: frau) mithalten kann, und beginnt zu rechnen: Was bedeutet es, wenn der Partner auf dem Acht-Kilo-Rennrad ohne Motor schwer schnauft, man selbst den Motor aber nur minimal nutzt – damit aber ein doch sechs Kilo schwereres Rad bergauf wuchten muss?

Foto: Tom Rottenberg

Dass wir nicht die Einzigen waren, die eine Winter-Radwoche genau so anlegten, sahen wir unterwegs öfter. Egal ob auf Mountain- oder Rennrädern (ich hoffe, das norwegische Paar verzeiht, hier ungefragt aufzutauchen) – und es war wahrlich nicht immer nur der oder die vermeintlich "Begünstigte", der oder die glücklich grinste: Auf diese Art zusammen, gemeinsam erleben und genießen zu können war bis vor ein paar Jahren undenkbar.

Und da ist noch etwas: Auch die sportlichsten Fahrerinnen und Fahrer bauen irgendwann ab. Weniger, was das Handling als die Kraft angeht: Darf der 77-jährige Ex-Lehrer aus Niederösterreich, der mit einer Gruppe "jüngerer" Kollegen (alle auch schon in Pension) so wie wir "vor dem Winter im Allgemeinen und dem Lockdown im Besonderen" nach Gran Canaria geflohen war, wirklich nur noch auf dem Donauradweg oder im Seewinkel Rad fahren? Er saß auf dem E-Mountainbike – seine Kumpels auf "echten" Rennrädern. "Noch", wie sie scherzten.

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich waren die Herren langsamer als die Jungen und Ehrgeizigen in Vereinsfarben. Sie radelten auch "nur" eine 500-Höhenmeter-Runde am Tag – und die eher gemütlich. Aber: na und? Wenn ich das mit 70 noch so schaffe, ist das ein Geschenk.

Mit das Schöne am Radfahren auf Gran Canaria ist aber auch, dass man nicht gejagt wird: Linienbusse, Lieferwägen, Taxis und Locals drängeln nicht. Bleiben auf un-, aber auch auf halb übersichtlichen Strecken minutenlang geduldig hinten – und überholen erst, wenn es "safe" ist. Mit seitlichen Sicherheitsabständen, die für unsereinen fast wie eine Parodie wirken.

Klar macht man als Radler da Platz, wann und wo es geht: Wenn ich weiß, dass ich nicht lebensgefährdend und aus Prinzip von wahnsinnigen Panzerfahrern abgedrängt werde, muss ich nicht jeden Ausweichzentimeter nach rechts mit Zähnen und Klauen verteidigen.

Wir hatten in dieser ganzen Woche lediglich zwei Nahtod-Überholmanöver. Beide Male waren es (Touri-)Mietwägen. Der, der bei Gegenverkehr in einer an sich schon engen Bergaufkurve lichthupend und heftig gestikulierend mit weniger als zehn Zentimeter Abstand unbedingt sofort an Barbara vorbei-"musste", stand kurz darauf bei einem Aussichtspunkt auf dem Berg: Er sprach Wienerisch.

Foto: Tom Rottenberg

Wichtiger, viel wichtiger sind auf solchen Trips aber die anderen, die schönen Erlebnisse: Am letzten Tag auf der letzten Runde sprach mich beim letzten Cappuccino-Stopp jemand an. "Hi, Tom, wir waren mal Nachbarn. Als Kinder." Andreas hatte ich seit der Volksschule nicht gesehen. Aber schon damals, in den 1970ern, war er ein Bike-Styler: Er fuhr das coolste Bonanza-Rad im Gemeindebau.

Oben auf dem Hügel trafen wir dann Willi. Willi (mit Kappe) ist 93 Jahre alt. Er war sein Leben lang Rennradfahrer. Er zeigte uns und seiner Familie die Erinnerungstafel an seine letzte Bergfahrt hier herauf. Diesen Berg, sagte Willi stolz, habe er vor drei Jahren noch geschafft. Ohne Motor. "Einmal würde ich es gerne noch versuchen. Mit einem E-Bike könnte es gehen."

Foto: Tom Rottenberg

Gelaufen sind wir aber natürlich schon auch. Wenn auch nur ein bisserl: Für schöne Trails (von denen es hier eine Million gibt) hätten wir aus dem touristisch – höflich formuliert – "übererschlossenen" Gebiet rausmüssen. Dafür hätten wir einen Mietwagen gebraucht. Noch besser: einen Campingvan. Aber das wäre ein anderer Urlaub – und eine andere Geschichte.

Denn für den Energiebedarf auf dem Rad ist – zumindest für mich – der More-than-you-can-eat-Buffet-Halbpensions-Overkill der "Burgen" ein echtes Argument. Der Rest? Nicht meins. Die Animation, das Liegenreservierspiel, das Nacht-, Kinder- und sonstige Entertainment-Zeug unseres Hotels bekamen wir nicht mit: andere Zielgruppe.

Aber von der Infrastruktur – dem Carefree-Service ab der Buchung, der guten Anbindung zum Airport, dem großen, sauberen Zimmer, dem guten Service, dem (von Personal wie Gästen strikt eingehaltenen) Covid-Präventionskonzept, dem Radverleih ums Eck oder dem Balkonblick auf die Dünen von Maspalomas – profitierten wir natürlich.

Foto: Tom Rottenberg

Doch darauf, zwischen Hotelburgen und Shoppingmalls zu joggen, hatten wir keine Lust. Nur einmal schafften wir es in die Laufschuhe: für einen Morgenlauf den Strand entlang, über die – vom Ins-Meer-geweht-Werden bedrohten – Dünen in einen windigen und doch traumhaft schönen Sonnenaufgang.

Daheim in Wien war es nasskalt und immer noch Lockdown.

Und einer globalen Pandemie kann man auf Dauer nicht davonlaufen.

Umso wichtiger ist es, den Kopf hin und wieder freizubekommen – und zu spüren und zu erleben, wie schön das Leben nicht nur sein kann, sondern ist.

Trotz allem.

Foto: Tom Rottenberg

Mehr Bilder vom Radfahren auf Gran Canaria gibt es auf Tom Rottenbergs Facebook- und Insta-Accounts.



Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien.

Der Aufenthalt auf Gran Canaria war ein privat organisierter Urlaub. Das Linzer Reiseunternehmen FTI gab aufs Arrangement zehn Prozent Rabatt, das Lopesan Baobab-Hotel spendierte ein Zimmer-Upgrade.

Die Fahrräder (einmal Cannondale Super Six Evo, einmal Specialized Turbo Creo SL) wurden von Free Motion kostenlos zur Verfügung gestellt.


Weiterlesen:

Winter in Schönbrunn: Ein Traum in Weiß

Hart, aber herrlich: Der Wüstenmarathon von Eilat

Gravelbiken: Wie der heimische Sporttourismus den Hype entdeckt

Foto: Tom Rottenberg